Marianne Sydow
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Marianne Sydow
 
Unser täglich Schwachsinn
 
2.12.2006
Kauf-Rausch?
 
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Nun jubeln sie lauthals und weihnachtlich, auf allen Kanälen, in allen Nachrichtensendungen, wie ein gut einstudierter Chor: Die Konjunktur boomt, die Bürger sind im "Kauf-Rausch", und wenn das schon jetzt, kurz vor dem 2. Advent, so toll ist - wie soll das erst werden, wenn Weihnachten wirklich unmittelbar vor der Tür steht?

Wie es in Berlin und anderen Ballungszentren auf den großen, wirklich angesagten Weihnachtsmärkten aussieht, kann ich nicht beurteilen, aber hier bei uns ist nichts von wilder Kauflust zu merken. Bestes Symptom ist die Parkplatz-Situation: sehr entspannt. Von verschiedenen Augenzeugen weiß ich, daß es auch anderenorts auffallend ruhig zugeht. Auf einem Weihnachtsmarkt in Potsdam z.B. stehen sich die Händler die Beine in den Bauch und werden kaum was los. "Kauf-Rausch" sieht anders aus.

Gerade eben (Samstag 2.12.06, 17.05) lief im ZDF-Länderspiegel wieder einer dieser "Juhuh - wir boomen!"-Berichte. Anschließend kam - passend wie die Faust aufs Auge - ein Kurzbericht über die Schwierigkeiten, die Hartz-IV-Empfänger haben, wenn sie krank sind: da gibt´s keine Zuzahlung, keine Härteregel, nichts. Ein schwerkranker Bürger war dabei, den hat man schon zweimal (weil er umgekippt war) per Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Von wo aus er dann wieder nach Hause ging. Denn die für sein Überleben dringend nötige Operation kann er sich nicht leisten: für den Krankenhaus-Aufenthalt müßte er 10.- Euro pro Tag zuzahlen. Schwierig bei 345.- Mücken im Monat. Und irgendwelche Ausnahmen sind nicht vorgesehen - nicht mal bei lebensbedrohlichen Zuständen.

Im Ernst: das ist kein Witz! Die entsprechenden Briefe der betreffenden Behörden wurden im Fernsehen gezeigt! Da stand überall: "entsprechend der geltenden Rechtslage", und mit dieser bequemen Begründung wurden alle Gesuche abgelehnt. Und das war nicht etwa ein Einzelfall! Wer auf Hartz IV krank wird oder bereits ist, muß eben selber sehen, wo er bleibt.

Ist das noch zu fassen?

"Kauf-Rausch" und Weihnachts-Stimmung - das einzige, was da noch fehlt, ist der Schnee. So heißt es zumindest, und da alle TV-Sender unisono dasselbe behaupten, wird´s wohl auch so sein. Denn schließlich haben sie alle den Finger am Puls der Zeit und so weiter.

Aber so mild das Wetter jetzt, Ende 2006, auch sein mag: an Kälte fehlt es nicht - in sozialer Hinsicht ist´s bereits ausgesprochen eisig. Würde sich das maßstabsgetreu auf die meteorologischen Niederschläge auswirken, hätten wir eine Schnee-Katastrophe allererster Kajüte.

Glücklicherweise ist das Wasser immun gegen solche Einflüsse. Sonst hätten wir nämlich im Handumdrehen ein Horror-Szenario: Die soziale Vergletscherung mit Millionen von Toten. Das wäre für gewisse Schichten vielleicht sogar ganz vorteilhaft: Die Arbeitslosenzahlen wären im Nu im Keller, und Härtefälle in Verbindung mit Hartz IV bräuchte man auch nicht mehr zu beklagen. Mit den paar Überlebenden könnte man dann natürlich auch viel freundlicher umgehen. Das ergäbe ein schnell und prompt einsetzendes Tauwetter, ein soziales. Und eine entsetzliche Welle von Gestank.

Ein Blick ins ZVAB (Zentral-Verzeichnis-Antiquarischer-Bücher) zeigt einen anderen Aspekt der Weihnachtszeit: Gibt man dort zur Zeit den Titel eines DDR-Buchs ein, kriegt man seitenweise Angebote, in erster Linie von Antiquariaten aus den neuen Ländern.

Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was da passiert: wunderschöne Bücher, mit Schutzumschlag, bestens erhalten, werden haufenweise angeboten. Das drückt natürlich die Preise - nicht nur in bezug auf den Verkauf, sondern auch im Einkauf.

In der DDR hatten Bücher einen ganz besonderen Stellenwert. Wenn sich jetzt so viele Leute von ihren Schätzen trennen, muß das schon schwerwiegende Gründe haben. Grund Nr. 1 dürfte akuter Geldmangel sein: Die Leute verscherbeln ihre Bücher, um ein paar zusätzliche Euro für den weihnachtlichen "Kauf-Rausch" lockerzumachen. "Hurrah, wir boomen!" oder so ähnlich.

Frau Merkel hat sicher keine Zeit, solche lächerlichen kleinen Symptome der galoppierenden Verarmung immer größerer Teile des von ihr regierten Volkes persönlich wahrzunehmen und zu bewerten. Aber sie hat eine Menge Leute, die ihr zuarbeiten. Wenn denen auch nichts auffällt, haben wir es ganz offensichtlich mit einer epidemischen Form sozialer Blindheit zu tun. Sie beginnt mit einer gewissen Einäugigkeit bei der Wahrnehmung der Befindlichkeiten der verschiedenen Bevölkerungsschichten und ist eigentlich, bei Lichte betrachtet, eine ganz einfache und logische Sache.

Die "da oben", groß und prächtig, sind eben von Natur aus schöner anzusehen: sie sind bestens angezogen, gut genährt, topfit und geliftet, kurzum: bei ihrem Anblick wird kein Aas ein schlechtes Gewissen kriegen. Und sie selbst brauchen auch keine Scheu zu haben, sich entsprechend zu präsentieren. So stehn sie dann also selbstbewußt im strahlenden Lichterschein, auf gleicher Ebene mit den Großen und den Mächtigen, und alle sind froh und glücklich - ganz besonders natürlich zur Weihnachtszeit, wenn die Präsent-Körbe, Spenden und sonstigen großherzigen Zuwendungen eintrudeln. Das flimmert und funkelt nur so, der Beifall prasselt und braust, es ist so wunderbar warm im Schein des Eigen- und sonstigen -lobes - da kann man doch vor Freude ganz besoffen werden!

Aber nach und nach werden "die da oben" von all der Helligkeit und dem freudigen Geschrei so geblendet und so taub, daß sie die anderen, die "da unten" im Schatten stehn und weinen, nicht mehr sehen und nicht mehr hören...


(©) by Marianne Sydow, 2.12.2006

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