Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 12:
Ogawas Urne
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Der bewußte Putzer war schon wieder draußen. Jonna gelang es, ihn einzufangen, ehe er hinter seiner Wandplatte verschwinden konnte. Er wand sich in ihren Händen und fuchtelt wie wild mit seinen Staubfängern herum. Sie besah ihn sich von allen Seiten, aber da war nichts, das irgendwie verdächtig hätte wirken können.

Sie setzte den Putzer vorsichtig wieder zu Boden. Er verschwand in höchster Eile.

Jonnas Magen knurrte vernehmlich. Sie hatte seit der Rückkehr aus der Außenwelt keinen Bissen hinuntergebracht. Sie verspürte auch jetzt keine Spur von Appetit.

Aber das Grollen und Knurren hörte nicht auf.

"Schon gut", sagte sie zu ihrem Magen hinab. "Du kriegst ja was. Aber hör auf, mich zu nerven!"

Sie wählte ihr Menue mit Bedacht: Bratkartoffeln und grüne Bohnen und zum Nachtisch Blaubeermelone mit Vanille-Eis.

Nach dem Essen setzte sie sich mit einem Becher Kaffee vor den Comco.

"Laß uns nachsehen, wie Ogawa seine Perlen konstruiert hat", sagte sie. "Nimm dir sein Gedächtnis vor und suche mir alles heraus, was mit der Konstruktion der Dinger in Verbindung steht."

Sie rechnete damit, daß der Comco eine bißchen Zeit brauchen würde, um diese Aufgabe zu lösen, und so nutzte sie die Pause, um auf die Toilette zu gehen.

Aber als sie zurückkam, war bereits alles fertig.

"So schnell?" fragte sie mißtrauisch.

"Die Daten sind bereits aufbereitet", erklärte der Comco. "Der Originalblock wurde inzwischen sicher schon in die Urne transferiert."

Normalerweise wurde das Gedächtnis erst nach der Beisetzung eines Verstorbenen für die Urne hergerichtet, aber in diesem speziellen Fall war das System offenbar mit den Terminen ein bißchen durcheinandergeraten.

Die Konstruktionsunterlagen für die Perlen waren in dem aufbereiteten Datenblock nicht enthalten.

"Verbinde mich mit der Friedhofsverwaltung der dritten Ebene von Mittelerde", befahl Jonna. "Gib mir das Bild auf den großen Schirm!"

Auf dem Videofenster erschien ein Tor - ein sehr altes Tor, aus roten Ziegelsteinen gemauert, mit Moospolstern und kleinen Farnen bewachsen, von den dicht belaubten Ästen uralter Bäume beschattet. Ameisen und kleine Käfer kletterten an der Mauer herum und führten in den Ritzen und Spalten zwischen den Steinen ihr virtuelles Eigenleben. Unter herabhängenden Zweigen tanzten kleine Mücken und Falter. In einem Sonnenfleck, auf einem prächtigen Moospolster, saßen sieben Weberknechte, schwarz, mit langen roten Beinen, und vollführten im Sonnenlicht einen seltsamen Tanz. Leise Harfenklänge und das sanfte Rauschen der Blätter untermalten das Bild. Es war eine wirklich schöne Szenerie - kein Vergleich zu dem düsteren Desaster, mit dem Selma Harper und all die anderen Urnen untergegangen waren.

Eine große, dürre Gestalt stand vor dem Tor: der Pförtner. Er trug einen weiten, schwarzen Mantel und eine Kapuze, unter der schattenhaft ein bleicher Totenschädel zu erkennen war.

"Wem gilt Ihr Besuch?" fragte er in einem schier unglaublich tiefen Baß.

Jonna nannte den Namen und das Geburtsdatum des Perlenspielers.

"Er ist gerade erst gestorben", fügte sie hinzu. "Ich weiß nicht, ob seine Urne schon installiert ist."

"Ich werde nachsehen", erklärte der Pförtner in womöglich noch tieferer Tonlage.

Er zog einen ungeheuren alten Folianten unter seinem Mantel hervor und blätterte mit seinen Knochenhänden darin herum.

"Er ist soeben eingetroffen", verkündete er schließlich. "Folgen Sie dem Licht!" Und dabei sackte seine Stimme in akustische Grabestiefen hinab, bis sie schließlich unhörbar wurde.

Das Tor öffnete sich. Ein leuchtender Ball erschien. In seinem Innern war undeutlich eine kleine geflügelte Gestalt zu erkennen, die freundlich winkte.

Jonna hatte normalerweise viel Verständnis für das Bedürfnis der Bürger, alle städtischen Einrichtungen mehr oder weniger geschmackvoll auszuschmücken, aber zu einem geruhsamen (elektronischen) Spaziergang war sie zu diesem Zeitpunkt denn doch nicht aufgelegt.

"Schluß mit den Spielereien!" befahl sie. "Comco - gib mir Ogawas Urne!"

Tor, Pförtner und Lichtball lösten sich in Nichts auf. Statt dessen erschien ein von Gras und Blumen umrahmter Grabstein, der sich öffnete und den Blick auf das elektronische Abbild von Ogawas Wohnung freigab. Vor dem Comco saß ein kleiner, schlanker Mann, der sich umdrehte und Jonna aufmerksam ansah.

"Sie sind mein erster Besucher", sagte der Mann, stand auf und kam näher. Etwas unsicher fuhr er fort: "Sie müssen mir verzeihen, aber ich bin noch ganz neu hier, und ich bin mir nicht sicher, ob man meine Daten vollständig erfassen konnte. Ich kann mich nicht an Sie erinnern."

Das war also Akira Ogawa, beziehungsweise das, was in den Speichern des Systems von ihm übriggeblieben war: eine abgeschlossene Personenakte, ein Persönlichkeitsbild.

"Sollte ich Sie kennen?" fragte der Perlenspieler unsicher.

"Nein", erwiderte Jonna. "Wir sind uns nie begegnet."

Der Raum, der auf dem Schirm zu sehen war, repräsentierte die oberste Schicht der Urne, den Grabstein, der für jedermann zugänglich war. Die Informationen, nach denen Jonna suchte, waren ganz sicher nicht hier, an der Oberfläche, zu finden.

"Entschuldigen Sie mich bitte", sagte sie zu Akira Ogawa. "Ich muß hinunter in die Gruft."

"Glauben Sie, daß es dort eine Kammer für sie gibt?" fragte die Urneneinheit. Es klang, als sei sie tatsächlich überrascht bei diesem Gedanken.

"Nein", erwiderte Jonna lächelnd. "Aber machen Sie sich deswegen bitte keine Sorgen. Betrachten Sie dies als eine Art Wartungsbesuch. Ich werde Ihnen keinen Schaden zufügen."

Sie aktivierte den Scanner.

"Sie sind eine Protektorin!" stellte Ogawa fest. "Wissen Sie, ich hätte zu meinen Lebzeiten alles dafür gegeben, einmal mit einem solchen Scanner arbeiten zu können!"

"Ein verständlicher Wunsch", sagte Jonna und öffnete die Tür zur Gruft. "Vor allem für einen Perlenspieler. Möchten Sie mich begleiten?"

"Oh, ja, gerne!"

Die Gruft - die mittlere Schicht der Urne - bestand aus einer individuell unterschiedlichen Zahl von kodierten Sektoren. Auf dem Videofenster erschienen diese Sektoren als Türen, von denen jede ein Schildchen trug. Die meisten Sektoren waren auf einzelne Personen abgestimmt: auf Verwandte, Lebenspartner, gute Freunde.

"Wie heißen Sie?" fragte Akira Ogawa.

Jonna nannte ihren Namen.

"Kein Raum für Sie", stellte die Urneneinheit fest. "Sehen Sie? Kein Schild mit Ihrem Namen!"

"Ich weiß", erwiderte Jonna.

Aber außer den personenbezogenen Sektoren gab es eine Reihe von Abteilungen für die verschiedenen Interessengebiete des Verstorbenen - interne Archive, aus denen die Urne all jene speziellen Informationen schöpfen konnte, die für die Glaubwürdigkeit der Gespräche erforderlich waren.

"Lassen Sie es uns dort versuchen", sagte Jonna und deutete auf eine Tür mit der Aufschrift "Glasperlenspiel".

Im Innern des Sektors waren unter anderem auch Ogawas Perlen zu sehen, aber sie befanden sich in einem beklagenswerten Zustand. Offenbar hatte das System sie beim Transfer in die Urne dem von Jonna empfohlenen Spezialverfahren unterzogen.

"Sie waren einmal sehr schön", sagte die Urneneinheit traurig und fügte zu allem Überfluß auch noch hinzu: "Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich diese Perlen gemacht habe. Ich habe diese Daten verloren."

"Das ist schade", sagte Jonna. "Sie waren ein großer Künstler, Akira Ogawa!"

"Danke!" sagte die Urne und lächelte schüchtern.

"Ich muß noch weiter nach unten", erklärte Jonna.

"In den Sarkophag?"

"Ja."

"Ist etwas nicht in Ordnung?"

"Oh, nein, ich muß nur etwas nachprüfen. Reine Routine. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich werde sehr vorsichtig sein."

"Darf ich Sie begleiten?"

"Das wäre nicht gut für Sie", sagte Jonna sanft. "Der Sarkophag ist nicht der geeignete Aufenthaltsort für Sie."

Aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie Ogawa in der Perlenkammer zurückließ.

Im Sarkophag steckte das "Unterbewußtsein" der Urne. Hier war das Programm untergebracht, dem die Urneneinheit ihre Kommunikationsfähigkeit verdankte. Außerdem bargen die Sarkophage eine Fülle von Daten, an die der jeweilige Insasse einer Urne sich nicht erinnern wollte oder sollte: Erinnerungen an Krankheit und Schmerz, an Demütigungen und Scham, an Mißerfolge und Niederlagen, Untreue und Verrat. Jeder Bürger konnte zu seinen Lebzeiten verfügen, daß bestimmte Informationen auch nach seinem Tode niemandem zugänglich gemacht werden sollten. Anderes wurde vom System aussortiert: die Protokolle vertraulicher Beratungsgespräche, Unterlagen über strafbare Handlungen, Diebesgeheimnisse und Hacker-Tricks sowie der ganze Wust von Routinedaten, die sich im Laufe eines Bürgerlebens ansammelten.

Das System war geradezu besessen von der Überzeugung, daß keine Information - wie nebensächlich sie auch scheinen mochte - verlorengehen durfte. Selbst die unwichtigsten Daten wurden bestenfalls verdichtet, zusammengezogen und konzentriert, niemals aber gelöscht. In einer Urne konnte man noch nach Jahrhunderten genaue Aufzeichnungen über jede einzelne Mahlzeit finden, die ein Bürger zu sich genommen hatte, über jedes Kleidungsstück, das er getragen, jeden Film, den er gesehen, jedes Buch, das er gelesen, jedes Com-Gespräch, das er geführt und jedes Medikament, das er eingenommen hatte.

Jonna ging davon aus, daß auch die Konstruktionsdaten für die Perlen immer noch existierten - hier unten, im Sarkophag. Aber so lange sie auch nach ihnen suchte: sie konnte sie nicht finden.

Sie kehrte in die mittlere Ebene zurück. Ogawa blickte ihr besorgt entgegen.

"Es ist alles in Ordnung", versicherte Jonna. "Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen."

"Geht es um die fehlenden Daten?" fragte Ogawa.

Jonna betrachtete ihn nachdenklich.

Der Glasperlenspieler wirkte ängstlich und nervös. Diese seltsame Unsicherheit gefiel der Protektorin ganz und gar nicht. Normalerweise wirkten Urneneinheiten eher ruhig, abgeklärt, fast weise - ein Eindruck, der sich in erster Linie aus der Beschränktheit des Programms ergab. Wurde eine Urneneinheit mit Dingen konfrontiert, die in ihrem Fundus nicht enthalten waren, so verlegte sie sich automatisch darauf, schweigend über das verfängliche Thema hinwegzugehen. Dieses Schweigen erweckte seltsamerweise den Eindruck von Autorität, Weisheit und einer gewissen Überlegenheit.

"Sie vermissen diese Daten", stellte Jonna fest. "Ich werde versuchen, sie Ihnen zu verschaffen."

"Das wird nicht gehen."

Jonna lächelte freundlich.

"Warten Sie es ab", empfahl sie sanft.

Sie schloß die Urne und nahm Verbindung zum System auf.

"Was hast du mit den Unterlagen zu Ogawas Perlen gemacht?" fragte sie. "Ich brauche diese Daten!"

"Sie existieren nicht mehr."

"WIE BITTE?"


"Akira Ogawa hatte kurz vor seinem Verschwinden einen Zusammenstoß mit einer Scan-Barriere. Es kam zu einem Daten-Abfluß. Dabei sind die Konstruktionsunterlagen verlorengegangen."

Jonna starrte schweigend auf das Videofenster.

Das System konnte nicht lügen. Das war eine Tatsache. Es konnte Dinge verschweigen, aber lügen konnte es nicht. Und darum mußte Jonna die vom System gelieferte Erklärung akzeptieren. Aber das fiel ihr ziemlich schwer, denn dieser "Zufall" war ihr außerordentlich suspekt.

"Werden Sie die Perlen, die Sie gespeichert haben, jetzt zur Löschung freigeben?" fragte das System.

Jonna schrak zusammen.

"Nein!" erwiderte sie schroff.

"Warum nicht?"

"Warum sollte ich sie löschen?" fragte Jonna zurück.

"Weil sie gefährlich sind. Es sollten keine Kopien davon erhalten bleiben."

"Ich dachte, wir hätten diesen Punkt bereits geklärt!" sagte Jonna scharf. "Warum reitest du immer wieder darauf herum?"

"Mir geht es nur um die Sicherheit der Bürger!"

Gegen dieses Argument war schwer anzukommen.

"Ich werde sie löschen", sagte Jonna. "Aber nicht jetzt!"

Das System nahm es schweigend zur Kenntnis.

"Im übrigen mußt du etwas wegen Ogawas Urne unternehmen", fuhr Jonna fort. "Sie vermißt ihre Daten."

"Akira Ogawa hat diesen Verlust selbst verschuldet. Also geschieht es ihm recht!"

Jonna war wie vor den Kopf geschlagen. Sie fragte sich bestürzt, ob gerade wieder einmal ein paar wildgewordene Reinigungsprogramme durch das System tobten und alles mögliche durcheinander brachten. Es mußte wohl so sein, denn anders ließ sich diese seltsame Antwort kaum erklären.

Das System funktionierte im Grunde genommen nach demselben Prinzip wie die Urnen. Es war selbstverständlich viel größer und viel komplizierter, und manche Bürger hielten es für geradezu allwissend, aber es war trotzdem nur ein Computerverbund. Es besaß keine eigenständige Intelligenz. Es hatte keine Gefühle. Wenn es Vokabeln wie "vielleicht" oder "möglicherweise" benutzte, dann geschah das nur auf der Basis eines speziellen semantischen Programms. In Wirklichkeit kannte es nur "ja" und "nein".

Und darum hatte das System nicht über die Bürger zu urteilen, weder über die lebenden, noch über die toten. Das gesamte Konzept von Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne und allem, was damit zusammenhing, war die Domäne der Menschen. Das System hatte in diese Dinge nicht hineinzureden - so war es programmiert.

Was also war in das verdammte Ding gefahren, daß es sich plötzlich nicht mehr an die Spielregeln hielt?

"Akira Ogawa ist tot", sagte Jonna Harper langsam. "Selbst wenn es möglich wäre, ihn über den Tod hinaus zu bestrafen, hättest du nicht die Befugnis, das zu tun. Was die Urneneinheit betrifft - sie wird aufgrund der fehlenden Daten früher oder später zusammenbrechen. Das würde unweigerlich auch die benachbarten Urnen in Mitleidenschaft ziehen, und das wiederum würde das Vertrauen der Bürger in die Unverletzbarkeit der Urnen erschüttern. Das können wir uns nicht leisten! Der Glaube an die elektronische Unsterblichkeit ist ein wesentlicher Faktor, wenn es um die Stabilität unserer Gesellschaft geht. Akira Ogawas Urne muß stabilisiert werden!"

"Die Daten existieren nicht mehr", erwiderte das System störrisch. "Also kann ich sie nicht in die Urne einspeisen."

"Dann gib ihr die Erinnerung daran, daß und wie Ogawa diesen Verlust erlitten hat. Das würde die Instabilität beseitigen!"

"Auch diese Daten existieren nicht mehr."

"Dann rekonstruiere sie! Nimm einen entsprechenden Block aus irgendeiner anderen Urne und ändere alle personenbezogenen Daten dahingehend ab, daß sie auf Akira Ogawa passen. Hole dir die nötigen Daten aus der Urneneinheit eines anderen Perlenspielers!"

Die Antwort des Systems ließ einen Augenblick auf sich warten: Offenbar mußte es diesen Vorschlag erst auf seine Durchführbarkeit hin untersuchen.

"Ich habe einen passenden Datenblock gefunden", sagte es schließlich. "Ich beginne mit der Überarbeitung. Möchten Sie das Ergebnis überprüfen?"

"Ja."

"Dann warten Sie bitte."

Jonna holte sich einen zweiten Becher Kaffee aus dem Automaten. Mit dem Becher in der Hand trat sie an die gläserne Wand zur Außenwelt und blickte hinaus in den Sonnenschein, mit verkniffenen Augen und gefurchter Stirn - der Sonnenkater machte ihr immer noch zu schaffen.

"Ich habe die Daten eingespeist und angepaßt", meldete das System.

Jonna öffnete den Grabstein ein zweites Mal.

Auch diesmal kam ihr Akira Ogawa entgegen, aber jetzt wirkte er so, wie man es von einer Urneneinheit erwarten konnte: ruhig, gelassen und heiter.

"Vermissen Sie immer noch Ihre fehlenden Daten?" fragte Jonna behutsam.

"Nein", erwiderte Ogawa.

Jonna nickte ihm zu und schloß die Urne.

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