Der bewußte Putzer war schon wieder draußen. Jonna gelang
es, ihn einzufangen, ehe er hinter seiner Wandplatte verschwinden konnte.
Er wand sich in ihren Händen und fuchtelt wie wild mit seinen Staubfängern
herum. Sie besah ihn sich von allen Seiten, aber da war nichts, das irgendwie
verdächtig hätte wirken können.
Sie setzte den Putzer vorsichtig wieder zu Boden. Er verschwand in höchster
Eile.
Jonnas Magen knurrte vernehmlich. Sie hatte seit der Rückkehr aus
der Außenwelt keinen Bissen hinuntergebracht. Sie verspürte
auch jetzt keine Spur von Appetit.
Aber das Grollen und Knurren hörte nicht auf.
"Schon gut", sagte sie zu ihrem Magen hinab. "Du kriegst
ja was. Aber hör auf, mich zu nerven!"
Sie wählte ihr Menue mit Bedacht: Bratkartoffeln
und grüne Bohnen und zum Nachtisch Blaubeermelone mit Vanille-Eis.
Nach dem Essen setzte sie sich mit einem Becher Kaffee vor den Comco.
"Laß uns nachsehen, wie Ogawa seine Perlen konstruiert hat",
sagte sie. "Nimm dir sein Gedächtnis vor und suche mir alles
heraus, was mit der Konstruktion der Dinger in Verbindung steht."
Sie rechnete damit, daß der Comco eine bißchen Zeit brauchen
würde, um diese Aufgabe zu lösen, und so nutzte sie die Pause,
um auf die Toilette zu gehen.
Aber als sie zurückkam, war bereits alles fertig.
"So schnell?" fragte sie mißtrauisch.
"Die Daten sind bereits aufbereitet", erklärte der Comco.
"Der Originalblock wurde inzwischen sicher schon in die Urne transferiert."
Normalerweise wurde das Gedächtnis erst nach
der Beisetzung eines Verstorbenen für die Urne hergerichtet, aber
in diesem speziellen Fall war das System offenbar mit den Terminen ein
bißchen durcheinandergeraten.
Die Konstruktionsunterlagen für die Perlen waren in dem aufbereiteten
Datenblock nicht enthalten.
"Verbinde mich mit der Friedhofsverwaltung der dritten Ebene von
Mittelerde", befahl Jonna. "Gib mir das Bild auf den großen
Schirm!"
Auf dem Videofenster erschien ein Tor - ein sehr altes Tor, aus roten
Ziegelsteinen gemauert, mit Moospolstern und kleinen Farnen bewachsen,
von den dicht belaubten Ästen uralter Bäume beschattet. Ameisen
und kleine Käfer kletterten an der Mauer herum und führten in
den Ritzen und Spalten zwischen den Steinen ihr virtuelles Eigenleben.
Unter herabhängenden Zweigen tanzten kleine Mücken und Falter.
In einem Sonnenfleck, auf einem prächtigen Moospolster, saßen
sieben Weberknechte, schwarz, mit langen roten Beinen, und vollführten
im Sonnenlicht einen seltsamen Tanz. Leise Harfenklänge und das sanfte
Rauschen der Blätter untermalten das Bild. Es war eine wirklich schöne
Szenerie - kein Vergleich zu dem düsteren Desaster, mit dem Selma
Harper und all die anderen Urnen untergegangen waren.
Eine große, dürre Gestalt stand vor dem Tor: der Pförtner.
Er trug einen weiten, schwarzen Mantel und eine Kapuze, unter der schattenhaft
ein bleicher Totenschädel zu erkennen war.
"Wem gilt Ihr Besuch?" fragte er in einem schier unglaublich
tiefen Baß.
Jonna nannte den Namen und das Geburtsdatum des Perlenspielers.
"Er ist gerade erst gestorben", fügte sie hinzu. "Ich
weiß nicht, ob seine Urne schon installiert ist."
"Ich werde nachsehen", erklärte der Pförtner in womöglich
noch tieferer Tonlage.
Er zog einen ungeheuren alten Folianten unter seinem Mantel hervor und
blätterte mit seinen Knochenhänden darin herum.
"Er ist soeben eingetroffen", verkündete er schließlich.
"Folgen Sie dem Licht!" Und dabei sackte seine Stimme in akustische
Grabestiefen hinab, bis sie schließlich unhörbar wurde.
Das Tor öffnete sich. Ein leuchtender Ball erschien. In seinem Innern
war undeutlich eine kleine geflügelte Gestalt zu erkennen, die freundlich
winkte.
Jonna hatte normalerweise viel Verständnis für das Bedürfnis
der Bürger, alle städtischen Einrichtungen mehr oder weniger
geschmackvoll auszuschmücken, aber zu einem geruhsamen (elektronischen)
Spaziergang war sie zu diesem Zeitpunkt denn doch nicht aufgelegt.
"Schluß mit den Spielereien!" befahl sie. "Comco
- gib mir Ogawas Urne!"
Tor, Pförtner und Lichtball lösten sich in Nichts auf. Statt
dessen erschien ein von Gras und Blumen umrahmter Grabstein, der sich
öffnete und den Blick auf das elektronische Abbild von Ogawas Wohnung
freigab. Vor dem Comco saß ein kleiner, schlanker Mann, der sich
umdrehte und Jonna aufmerksam ansah.
"Sie sind mein erster Besucher", sagte der Mann, stand auf und
kam näher. Etwas unsicher fuhr er fort: "Sie müssen mir
verzeihen, aber ich bin noch ganz neu hier, und ich bin mir nicht sicher,
ob man meine Daten vollständig erfassen konnte. Ich kann mich nicht
an Sie erinnern."
Das war also Akira Ogawa, beziehungsweise das, was in den Speichern des
Systems von ihm übriggeblieben war: eine abgeschlossene Personenakte,
ein Persönlichkeitsbild.
"Sollte ich Sie kennen?" fragte der Perlenspieler unsicher.
"Nein", erwiderte Jonna. "Wir sind uns nie begegnet."
Der Raum, der auf dem Schirm zu sehen war, repräsentierte die oberste
Schicht der Urne, den Grabstein, der für jedermann zugänglich
war. Die Informationen, nach denen Jonna suchte, waren ganz sicher nicht
hier, an der Oberfläche, zu finden.
"Entschuldigen Sie mich bitte", sagte sie zu Akira Ogawa. "Ich
muß hinunter in die Gruft."
"Glauben Sie, daß es dort eine Kammer für sie gibt?"
fragte die Urneneinheit. Es klang, als sei sie tatsächlich überrascht
bei diesem Gedanken.
"Nein", erwiderte Jonna lächelnd. "Aber machen Sie
sich deswegen bitte keine Sorgen. Betrachten Sie dies als eine Art Wartungsbesuch.
Ich werde Ihnen keinen Schaden zufügen."
Sie aktivierte den Scanner.
"Sie sind eine Protektorin!" stellte Ogawa fest. "Wissen
Sie, ich hätte zu meinen Lebzeiten alles dafür gegeben, einmal
mit einem solchen Scanner arbeiten zu können!"
"Ein verständlicher Wunsch", sagte Jonna und öffnete
die Tür zur Gruft. "Vor allem für einen Perlenspieler.
Möchten Sie mich begleiten?"
"Oh, ja, gerne!"
Die Gruft - die mittlere Schicht der Urne - bestand aus einer individuell
unterschiedlichen Zahl von kodierten Sektoren. Auf dem Videofenster erschienen
diese Sektoren als Türen, von denen jede ein Schildchen trug. Die
meisten Sektoren waren auf einzelne Personen abgestimmt: auf Verwandte,
Lebenspartner, gute Freunde.
"Wie heißen Sie?" fragte Akira Ogawa.
Jonna nannte ihren Namen.
"Kein Raum für Sie", stellte die Urneneinheit fest. "Sehen
Sie? Kein Schild mit Ihrem Namen!"
"Ich weiß", erwiderte Jonna.
Aber außer den personenbezogenen Sektoren gab es eine Reihe von
Abteilungen für die verschiedenen Interessengebiete des Verstorbenen
- interne Archive, aus denen die Urne all jene speziellen Informationen
schöpfen konnte, die für die Glaubwürdigkeit der Gespräche
erforderlich waren.
"Lassen Sie es uns dort versuchen", sagte Jonna und deutete
auf eine Tür mit der Aufschrift "Glasperlenspiel".
Im Innern des Sektors waren unter anderem auch Ogawas Perlen zu sehen,
aber sie befanden sich in einem beklagenswerten Zustand. Offenbar hatte
das System sie beim Transfer in die Urne dem von Jonna empfohlenen Spezialverfahren
unterzogen.
"Sie waren einmal sehr schön", sagte die Urneneinheit traurig
und fügte zu allem Überfluß auch noch hinzu: "Ich
kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich diese Perlen gemacht
habe. Ich habe diese Daten verloren."
"Das ist schade", sagte Jonna. "Sie waren ein großer
Künstler, Akira Ogawa!"
"Danke!" sagte die Urne und lächelte schüchtern.
"Ich muß noch weiter nach unten", erklärte Jonna.
"In den Sarkophag?"
"Ja."
"Ist etwas nicht in Ordnung?"
"Oh, nein, ich muß nur etwas nachprüfen. Reine Routine.
Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich werde sehr vorsichtig sein."
"Darf ich Sie begleiten?"
"Das wäre nicht gut für Sie", sagte Jonna sanft. "Der
Sarkophag ist nicht der geeignete Aufenthaltsort für Sie."
Aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie Ogawa in der Perlenkammer
zurückließ.
Im Sarkophag steckte das "Unterbewußtsein" der Urne. Hier
war das Programm untergebracht, dem die Urneneinheit ihre Kommunikationsfähigkeit
verdankte. Außerdem bargen die Sarkophage eine Fülle von Daten,
an die der jeweilige Insasse einer Urne sich nicht erinnern wollte oder
sollte: Erinnerungen an Krankheit und Schmerz, an Demütigungen und
Scham, an Mißerfolge und Niederlagen, Untreue und Verrat. Jeder
Bürger konnte zu seinen Lebzeiten verfügen, daß bestimmte
Informationen auch nach seinem Tode niemandem zugänglich gemacht
werden sollten. Anderes wurde vom System aussortiert: die Protokolle vertraulicher
Beratungsgespräche, Unterlagen über strafbare Handlungen, Diebesgeheimnisse
und Hacker-Tricks sowie der ganze Wust von Routinedaten, die sich im Laufe
eines Bürgerlebens ansammelten.
Das System war geradezu besessen von der Überzeugung, daß keine
Information - wie nebensächlich sie auch scheinen mochte - verlorengehen
durfte. Selbst die unwichtigsten Daten wurden bestenfalls verdichtet,
zusammengezogen und konzentriert, niemals aber gelöscht. In einer
Urne konnte man noch nach Jahrhunderten genaue Aufzeichnungen über
jede einzelne Mahlzeit finden, die ein Bürger zu sich genommen hatte,
über jedes Kleidungsstück, das er getragen, jeden Film, den
er gesehen, jedes Buch, das er gelesen, jedes Com-Gespräch, das er
geführt und jedes Medikament, das er eingenommen hatte.
Jonna ging davon aus, daß auch die Konstruktionsdaten für die
Perlen immer noch existierten - hier unten, im Sarkophag. Aber so lange
sie auch nach ihnen suchte: sie konnte sie nicht finden.
Sie kehrte in die mittlere Ebene zurück. Ogawa blickte ihr besorgt
entgegen.
"Es ist alles in Ordnung", versicherte Jonna. "Sie brauchen
sich keine Sorgen zu machen."
"Geht es um die fehlenden Daten?" fragte Ogawa.
Jonna betrachtete ihn nachdenklich.
Der Glasperlenspieler wirkte ängstlich und nervös. Diese seltsame
Unsicherheit gefiel der Protektorin ganz und gar nicht. Normalerweise
wirkten Urneneinheiten eher ruhig, abgeklärt, fast weise - ein Eindruck,
der sich in erster Linie aus der Beschränktheit des Programms ergab.
Wurde eine Urneneinheit mit Dingen konfrontiert, die in ihrem Fundus nicht
enthalten waren, so verlegte sie sich automatisch darauf, schweigend über
das verfängliche Thema hinwegzugehen. Dieses Schweigen erweckte seltsamerweise
den Eindruck von Autorität, Weisheit und einer gewissen Überlegenheit.
"Sie vermissen diese Daten", stellte Jonna fest. "Ich werde
versuchen, sie Ihnen zu verschaffen."
"Das wird nicht gehen."
Jonna lächelte freundlich.
"Warten Sie es ab", empfahl sie sanft.
Sie schloß die Urne und nahm Verbindung zum System auf.
"Was hast du mit den Unterlagen zu Ogawas Perlen gemacht?" fragte
sie. "Ich brauche diese Daten!"
"Sie existieren nicht mehr."
"WIE BITTE?"
"Akira Ogawa hatte kurz vor seinem Verschwinden einen Zusammenstoß
mit einer Scan-Barriere. Es kam zu einem Daten-Abfluß. Dabei sind
die Konstruktionsunterlagen verlorengegangen."
Jonna starrte schweigend auf das Videofenster.
Das System konnte nicht lügen. Das war eine Tatsache. Es konnte Dinge
verschweigen, aber lügen konnte es nicht.
Und darum mußte Jonna die vom System gelieferte Erklärung akzeptieren.
Aber das fiel ihr ziemlich schwer, denn dieser "Zufall" war
ihr außerordentlich suspekt.
"Werden Sie die Perlen, die Sie gespeichert haben, jetzt zur Löschung
freigeben?" fragte das System.
Jonna schrak zusammen.
"Nein!" erwiderte sie schroff.
"Warum nicht?"
"Warum sollte ich sie löschen?" fragte Jonna zurück.
"Weil sie gefährlich sind. Es sollten keine Kopien davon erhalten
bleiben."
"Ich dachte, wir hätten diesen Punkt bereits geklärt!"
sagte Jonna scharf. "Warum reitest du immer wieder darauf herum?"
"Mir geht es nur um die Sicherheit der Bürger!"
Gegen dieses Argument war schwer anzukommen.
"Ich werde sie löschen", sagte
Jonna. "Aber nicht jetzt!"
Das System nahm es schweigend zur Kenntnis.
"Im übrigen mußt du etwas wegen Ogawas Urne unternehmen",
fuhr Jonna fort. "Sie vermißt ihre Daten."
"Akira Ogawa hat diesen Verlust selbst verschuldet. Also geschieht
es ihm recht!"
Jonna war wie vor den Kopf geschlagen. Sie fragte sich bestürzt,
ob gerade wieder einmal ein paar wildgewordene Reinigungsprogramme durch
das System tobten und alles mögliche durcheinander brachten. Es mußte
wohl so sein, denn anders ließ sich diese seltsame Antwort kaum
erklären.
Das System funktionierte im Grunde genommen nach demselben Prinzip wie
die Urnen. Es war selbstverständlich viel größer und viel
komplizierter, und manche Bürger hielten es für geradezu allwissend,
aber es war trotzdem nur ein Computerverbund. Es besaß keine eigenständige
Intelligenz. Es hatte keine Gefühle. Wenn es Vokabeln wie "vielleicht"
oder "möglicherweise" benutzte, dann geschah das nur auf
der Basis eines speziellen semantischen Programms. In Wirklichkeit kannte
es nur "ja" und "nein".
Und darum hatte das System nicht über die Bürger zu urteilen,
weder über die lebenden, noch über die toten. Das gesamte Konzept
von Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne und allem, was damit
zusammenhing, war die Domäne der Menschen. Das System hatte in diese
Dinge nicht hineinzureden - so war es programmiert.
Was also war in das verdammte Ding gefahren, daß es sich plötzlich
nicht mehr an die Spielregeln hielt?
"Akira Ogawa ist tot", sagte Jonna Harper langsam. "Selbst
wenn es möglich wäre, ihn über den Tod hinaus zu bestrafen,
hättest du nicht die Befugnis, das zu tun. Was die Urneneinheit betrifft
- sie wird aufgrund der fehlenden Daten früher oder später zusammenbrechen.
Das würde unweigerlich auch die benachbarten Urnen in Mitleidenschaft
ziehen, und das wiederum würde das Vertrauen der Bürger in die
Unverletzbarkeit der Urnen erschüttern. Das können wir uns nicht
leisten! Der Glaube an die elektronische Unsterblichkeit ist ein wesentlicher
Faktor, wenn es um die Stabilität unserer Gesellschaft geht. Akira
Ogawas Urne muß stabilisiert werden!"
"Die Daten existieren nicht mehr", erwiderte das System störrisch.
"Also kann ich sie nicht in die Urne einspeisen."
"Dann gib ihr die Erinnerung daran, daß und wie Ogawa diesen
Verlust erlitten hat. Das würde die Instabilität beseitigen!"
"Auch diese Daten existieren nicht mehr."
"Dann rekonstruiere sie! Nimm einen entsprechenden Block aus irgendeiner
anderen Urne und ändere alle personenbezogenen Daten dahingehend
ab, daß sie auf Akira Ogawa passen. Hole dir die nötigen Daten
aus der Urneneinheit eines anderen Perlenspielers!"
Die Antwort des Systems ließ einen Augenblick auf sich warten: Offenbar
mußte es diesen Vorschlag erst auf seine Durchführbarkeit hin
untersuchen.
"Ich habe einen passenden Datenblock gefunden", sagte es schließlich.
"Ich beginne mit der Überarbeitung. Möchten Sie das Ergebnis
überprüfen?"
"Ja."
"Dann warten Sie bitte."
Jonna holte sich einen zweiten Becher Kaffee aus dem Automaten. Mit dem
Becher in der Hand trat sie an die gläserne Wand zur Außenwelt
und blickte hinaus in den Sonnenschein, mit verkniffenen Augen und gefurchter
Stirn - der Sonnenkater machte ihr immer noch zu schaffen.
"Ich habe die Daten eingespeist und angepaßt", meldete
das System.
Jonna öffnete den Grabstein ein zweites Mal.
Auch diesmal kam ihr Akira Ogawa entgegen, aber jetzt wirkte er so, wie
man es von einer Urneneinheit erwarten konnte: ruhig, gelassen und heiter.
"Vermissen Sie immer noch Ihre fehlenden Daten?" fragte Jonna
behutsam.
"Nein", erwiderte Ogawa.
Jonna nickte ihm zu und schloß die Urne.
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