Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 11
Fiona O´Connor
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Die Familie Ogawas wohnte im Basisgeschoß der dritten Ebene von Mittelerde, an der Nordost-Diagonale, oben auf der ersten Galerie. Das war eine imposante Gegend. Vor allem in bezug auf die Lautstärke.

Die Diagonale an sich war ein spezieller Bereich, fünfundzwanzig Meter breit und fünf Stockwerke hoch, in mehrere Ebenen unterteilt, mit Tauschmärkten und Ausstellungen, Präsentationen, Cybertreffs, zu Restaurants umfunktionierten Kantinen, kleinen Kaffee-Stuben, Kabaretts und anderen vergnüglichen Orten, alle voll von Menschen, die lachten und redeten, sangen und riefen, Texte vortrugen, musizierten und die überall eifrig tätigen Artisten, Pantomimen und Musiker anfeuerten.

Für Jonna war das so etwas wie der Vorhof zur Hölle. Der Lärm war ohrenbetäubend, und es waren so viele Menschen unterwegs, daß es kaum möglich war, ihnen auszuweichen. Zwei Pantomimen betatschten sie, ein Clown drängte ihr eine Papierblume auf, und ein Klarinettist blies ihr bei einem plötzlichen, völlig unmotivierten Vorstoß in ihre Richtung fast das Trommelfell aus dem Schädel.

Sie wich unter die Galerie aus, in der Hoffnung, von dort aus leichter an die Rampe heranzukommen. Aber auch hier stand ihr jemand im Wege, ein kerzengerade aufgerichteter junger Bürger, ausgerüstet mit einem antik aussehenden Holzkasten, der mit zwei Metallstangen versehen war: einer senkrecht aufragenden Antenne und einer seitlich herausschauenden Schleife oder Schlinge. Es schien sich um ein Musikinstrument zu handeln, denn aus der Gegend des Holzkastens ertönte eine uralte Melodie: "Somewhere over the rainbow". Es schien, daß der Bürger die Melodie erzeugte, indem er die Hände über dem Kasten in der Luft bewegte - wie ein Magier.

Jonna blieb unwillkürlich stehen. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

"Dies ist ein Theremin" stand auf einer großen Folie, die der Musiker hinter sich an der Wand befestigt hatte, "das einzige Instrument der Alten Welt, das man spielt, ohne es zu berühren." Und dann folgten Erklärungen technischer Art.

Aber die Schrift wurde nach unten hin immer kleiner, so daß Jonna näher an die Folie herantreten mußte, um weiterlesen zu können.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, daß der Besitzer des Kastens jedesmal, wenn sie näher an das Plakat heranrückte, einen Schritt zur Rampe hin tat, weg von dem sonderbaren Instrument. Beim ersten Schritt wurde die Melodie leiser. Der nächste Schritt - die Melodie verstummte. Der Musiker blieb stehen. Jonna tat den nächsten Schritt. Aus dem Kasten drang ein durchdringendes Heulen.

Erschrocken wich sie zurück. Der Musiker lachte.

"Sehen Sie?" sagte er. "So funktioniert ein Theremin! Sie sind ihm zu nahe gekommen, und da hat er reagiert. Aber nicht über Sensoren. Für ihn sind Sie nichts weiter als ein elektrischer Widerstand auf zwei Beinen. Wenn Sie ihm in die Quere kommen, macht er Geräusche. Und wenn man den Dreh raus hat, wird aus den Geräuschen Musik. Aber das ist verdammt schwierig!"

Der kleine Trick, den er mit Jonna abgezogen hatte, erfüllte seinen Zweck: Ein paar Leute waren stehengeblieben. Er begann erneut zu spielen. Noch mehr Leute kamen herbei.

Hoffentlich erkennt mich niemand, sonst gibt´s hier noch Geschrei! dachte Jonna beunruhigt. Ich hätte gar nicht erst hierherkommen dürfen! Das liegt alles nur an diesen verdammten Perlen - die Dinger haben mich völlig durcheinandergebracht. Ich sollte auf der Stelle umkehren!

Aber hinter ihr drängten sich die Neugierigen. Darum trat sie die Flucht nach vorne an, Richtung Rampe, drückte sich hinter dem Musiker vorbei (der tönende Kasten quittierte ihre erneute Annäherung mit einem protestierenden Mißton - Mit dem hab´ ich´s mir aber gründlich verdorben! dachte Jonna spöttisch) und ging hinauf.

Wenigstens erstmal raus aus dem Gewühl!

Oben tobten Kinder herum. Der Boden war mit Spielzeug übersät. Drei alte Männer, nur mit Shorts bekleidet, saßen dicht am Geländer an einem kleinen Tisch und spielten Karten. Nahezu alle Wohnungstüren waren geöffnet - viele Bürger liebten es, in ständigem Kontakt zu ihren Nachbarn zu leben, eine Vorstellung, die Jonna mit Grausen erfüllte.


Auch Ogawas Tür stand sperrangelweit offen. Eine junge Frau - Anfang dreißig, schmales Gesicht, dunkles Haar, verweinte Augen - ging drinnen umher und räumte Stapel von Kleidungsstücken in einen Mini-Container, der in der Mitte des Zimmers stand.

"Sind Sie Fiona O'Connor?" fragte Jonna vorsichtig.

Die junge Frau wandte kaum den Kopf: "Was wollen Sie von mir?"

"Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Aber wenn Ihnen jetzt nicht danach zumute ist, können wir das ohne weiteres verschieben."

Jonna hoffte, daß ihre potentielle Gesprächspartnerin sich die Störung wütend verbitten würde (wäre doch ein fabelhafter Grund, auf höchst glaubhafte Weise den Rückzug anzutreten!), aber Ogawas Gefährtin blieb stehen, einen Pullover in der Hand, und dachte nach.

"Es wird morgen oder übermorgen auch nicht leichter sein", sagte sie schließlich.

Die alten Männer ließen ihr Kartenspiel im Stich und kamen herbei, gefolgt von neugierigen Nachbarn.

"Kommen Sie herein!" sagte Fiona O'Connor.


Jonna folgte der Aufforderung, stand dann in der Wohnung des toten Perlenspielers und wußte nicht, wohin mit sich. Sie fühlte sich groß, deplaciert und ungeschickt.

Hier ist alles so klein, so eng!


Hinter ihr tuschelten die Bürger miteinander.

Fiona O'Connor schob den Mini-Container näher an einen der Wandschränke heran. Sie hatte immer noch den Pullover in der Hand, als bräuchte sie ihn, um sich an etwas Vertrautem festzuhalten. Sie wies mit einer vagen Handbewegung auf den obligatorischen Sessel.

"Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich weitermache", sagte sie. "Ich muß bis heute abend mit dem Packen fertig werden. Das alles ist wahrhaftig schlimm genug. Aber daß wir jetzt auch noch so schnell umziehen müssen - das ist nicht fair!"

"Warum bleiben Sie nicht einfach hier?"

Das Tuscheln hörte auf. Ogawas Gefährtin blieb stehen und starrte Jonna an.

"Ich denke, das ist ein Gesetz!" sagte sie unsicher. "Eine Wohneinheit pro Bürger. Akira ist tot, ein Raum wird frei, und wir sind nur noch zu dritt."

"Na und? Sie brauchen doch bloß die Tür zu schließen!"

Fiona O'Connor stutzte für einen Augenblick. Jonna hörte hinter sich harte Schritte, dann das hastige Trappeln vieler Füße.

"Nein, nein, wir müssen hier raus!" versicherte Fiona, sichtlich nervös.


Jonna drehte sich um. Hinter ihr nahmen gerade eben zwei Ordnungshüter von der Nachbarschaftshilfe Aufstellung, schweigend, die Arme in die Hüften gestemmt, ohne jeden Zweifel mit Nachdruck darauf bedacht, einschüchternd zu wirken. Die anderen Bürger hatten sich verdrückt. Auf der Galerie war es plötzlich bemerkenswert still.

Jonna blickte von den zwei Stadtpolizisten zu Fiona O'Connor und wieder zurück, ging hin und schloß die Tür.

"Lassen Sie sich von diesen Typen bloß nicht verrückt machen", sagte sie. "Die haben nicht über Sie zu bestimmen. Ich werde dafür sorgen, daß man Sie in Ruhe läßt."

Das war ein Fehler: Fiona wich erschrocken zurück.

Das hast du toll gemacht. Jetzt weiß sie, wer du bist!

Jonna tat unwillkürlich einen Schritt zur Seite, so daß sie zwischen Fiona O'Connor und die Tür zu stehen kam.

"Keine Angst!" sagte sie. "Sie haben von mir nichts zu befürchten!"

"Sie sind eine Protektorin", stellte Fiona fest. "Ich habe Sie mal bei einer Ratssitzung gesehen! Was wollen Sie hier?"

"Ich muß herausfinden, warum Akira in die Außenwelt gegangen ist. Dazu brauche ich Informationen."

"Haben Sie ihn da draußen aufgespürt?"

"Ja."

"Haben Sie ihn getötet?"

Das mußte ja kommen!

In der Stadt kursierten die unglaublichsten Gerüchte über die Protektoren und über das, was sie angeblich alles tun durften. Jonna und ihre Kollegen unternahmen nichts dagegen. Gelegentlich war es nötig, daß sie den Bürgern Befehle gaben und daß die Bürger diese Befehle befolgten - sofort und ohne die sonst üblichen Debatten.

Die Bürger liebten Debatten. Sie konnten alles und jedes in Grund und Boden diskutieren. Das war ein regelrechter Sport für sie - wirklich: es gab Wettbewerbe, in denen sie sich nach dem k.o-System solange gegenseitig verbal niedermachten, bis nur noch einer übrigblieb. Myskiallen war in seiner Jugend drei Jahre lang "Meister der Argumente" gewesen.

Aber wenn zum Beispiel ein Bio-Tank undicht wurde, konnte jede Verzögerung Tausende von Leben kosten. Darum mußten die Bürger in solchen Fällen laufen, anstatt zu reden. Angst vor der angeblichen Macht der Protektoren war eines der wenigen Mittel, sie ohne Zeitverlust in Bewegung zu setzen. Wie Cheroux es einmal ausgedrückt hatte: "Was soll´s? Laß sie reden. Ich bügle deine Psyche schon wieder gerade. Aber wenn erstmal Tausende von Toten durch deine Träume marschieren, kann dir keiner mehr helfen!"

Trotzdem tat es weh.

Jonna schluckte die Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag.

"Er war schon tot, als ich ihn fand", erklärte sie. Glücklicherweise, fügte sie in Gedanken hinzu, aber das war etwas, das diese Frau nun wirklich nicht wissen mußte.

Fiona setzte sich auf den Rand des Sessels. Jonna ließ ihr Zeit.

"Was ist mit ihm passiert?" fragte Fiona schließlich. "Wie ist er gestorben?"

Jonna betrachtete diese arme junge Bürgerin - sie war so dünnhäutig, so verletzlich, so verzweifelt auf der Suche nach einer Erklärung für etwas, das sie noch gar nicht ganz begriffen hatte.

"Er ist tot", sagte sie sanft. "Lassen wir es damit gut sein - okay? Die einzige Frage, die wir jetzt klären müssen, lautet: warum ist er rausgegangen?"

"Ich habe nicht die leiseste Ahnung", flüsterte Fiona schaudernd - ihr Kinn zitterte. Sie kämpfte mit den Tränen. Offensichtlich wollte sie nicht weinen - nicht jetzt, vor dieser Protektorin, vor der sie sich fürchtete. "Die Leute von der Nachbarschaftshilfe", sagte sie, und ihre Stimme klang heiser von der Anstrengung, die es sie kostete, die Tränen zurückzuhalten, "sie behaupten, daß er den Stadtkoller hatte. Aber das glaube ich denen nicht!"

"Ich kann mir kein Urteil über seinen Geisteszustand erlauben", bemerkte Jonna. "Aber den Stadtkoller hatte er mit Sicherheit nicht. Koller-Kranke verlieren die Beherrschung und rasen blindlings ins Verderben. Ihr Mann dagegen scheint mir sehr überlegt vorgegangen zu sein."

"Die von der Nachbarschaftshilfe sagen: Wenn es nicht der Stadtkoller war, dann wollte er eben Selbstmord begehen. Aber das glaube ich erst recht nicht. Er hätte es niemals auf diese Weise getan - nicht da draußen. Er wäre zu einem Sani gegangen. Da bin ich mir ganz sicher."

"Seine Perlen lassen darauf schließen, daß er die Außenwelt idealisiert hat", gab Jonna zu bedenken. "Wäre es nicht möglich, daß er die Gefahr unterschätzt hat?"

"Nein, das hat er ganz sicher nicht!"

Und Jonna wußte, daß Fiona O'Connor auch in diesem Punkt recht hatte: Akira Ogawa hatte gewußt, was ihn erwartete. Anderenfalls hätte er sich keine Waffe beschafft und sich nicht in einen Schutzanzug gequält.

"Die Nachbarschaftshilfe hat seine Perlen verboten". sagte sie. "Wie hat er das verkraftet?"

Fiona sah zu Jonna auf.

"War es wirklich die Nachbarschaftshilfe?" fragte sie.

"Ja."

"Die haben uns aber gesagt, sie hätten eine Anweisung vom Außendienst gekriegt!"

Jonna dachte an die unheimliche Wirkung von Ogawas Perlen.

"Früher oder später wäre das wohl auch passiert", gab sie zu. "Aber die Nachbarschaftshilfe ist uns zuvorgekommen."

Fiona O'Connor schien nicht recht zu wissen, ob sie diese Behauptung glauben sollte.

"Wie hat er reagiert?" hakte Jonna nach.

Fiona zuckte die Achseln.

"Anfangs war er noch ganz gelassen. Er sagte: 'Diese Typen können meine Perlen nicht verbieten, ohne sie sich vorher wenigstens mal anzusehen, und wenn sie das tun, habe ich sie am Haken. Sie werden die Sperre wieder aufheben'. Aber er hat sich geirrt." Ihre Trauer schlug um in plötzliche Wut. Sie versetzte dem Mini-Container einen heftigen Tritt. "Wissen Sie eigentlich, was man ihm alles angetan hat? Man hat ihm den Zugang zu den Archiven verweigert, ihm die Perlenspieler-Lizenz entzogen. Ständig tauchten Leute auf und stellten ihm die blödsinnigsten Fragen. Woher er die Bilder hatte - aus den Archiven, woher denn sonst! Woher die Musik kam - auch aus den Archiven! Er war doch kein Komponist! Warum seine Perlen diese Wirkung hatten - das wußte er doch selber nicht! Er war ein Perlenspieler - er hat all diese Elemente genommen und zusammengesetzt. Das ist alles!"

Aber es war eben nicht alles - nicht in diesem speziellen Fall.

"Die behaupten, daß er verrückt war", fuhr Fiona fort. "Das war er nicht! Aber die haben alles getan, um ihn verrückt zu machen. Dabei hat er sich solche Mühe gegeben! Er wollte doch niemandem schaden! Er wollte eine neue Staffel machen, und die sollte so etwas wie ein Gegengewicht bilden. In seinen neuen Perlen wollte er die Außenwelt so zeigen, wie sie wirklich ist. Er hat eine Menge Informationen gesammelt und ausgewertet. Das Ergebnis war gräßlich. Ich glaube, zuletzt hatte er sogar Verständnis dafür, daß man seine Perlen aus dem Programm genommen hat."

Wenn das tatsächlich so war, wenn er bereits genug Material hatte - warum war Ogawa dann überhaupt durch die Schleuse marschiert? Und warum hatte er sich so weit von der Stadt entfernt?

"Glauben Sie, daß es Selbstmord war?" fragte Fiona zögernd.

"Nein."

"Das ist gut!"

Ein Punkt für mich, wie mir scheint.

Fiona sah zu Jonna auf.

"Er hat ein paar Tage vorher einen sehr seltsamen Anruf erhalten", sagte sie. "Von diesem Augenblick an fühlte er sich bedroht. Ich glaube, daß er auch Grund dazu hatte."

"Wer hat ihn bedroht?"

"Keine Ahnung. Es hat sich niemand gezeigt, kein Name wurde genannt. Wir waren uns darüber einig, daß es jemand von der Nachbarschaftshilfe war. Man sagte ihm, jemand würde ihn zwingen, Selbstmord zu begehen. Wie finden Sie das?"

"Wie sind Sie darauf gekommen, daß es jemand von der Nachbarschaftshilfe sein könnte?"

"Wer soll es denn sonst gewesen sein? Und dann - es war die Art, wie der Anrufer gesprochen hat. Das wirkte alles so ... merkwürdig. Außerdem - die Nachbarschaftshilfe hat doch sowieso schon ständig auf ihm rumgehackt. Die konnten ihn einfach nicht leiden! Schon vor der Sache mit den Würmern. Er war eben anders. Er war kreativ, er hatte ungewöhnliche Ideen, und er war klug. Das können die nicht ausstehen."

Und - was wichtiger war - bei der Nachbarschaftshilfe gab es Leute, die daran gewöhnt waren, mit Drogen umzugehen und Menschen zu manipulieren. Hatten sie Ogawa dazu gebracht, die Stadt zu verlassen? Aber warum? Was wollten sie damit erreichen?

Myskiallen und seine Bande! dachte Jonna. Irgendwie hängen die da mit drin. Das ist ein regelrechtes Komplott. Und es ist offensichtlich noch nicht vorbei. Warum soll Fiona von hier weg? Wozu die Eile?

Sie zog den Scanner hervor und verlangte Auskunft darüber, wohin die Nachbarschaftshilfe Fiona verfrachten wollte. Die Antwort, die sie erhielt, verwunderte sie.

"Sie haben das System gebeten, Ihnen eine kleinere Wohnung anzuweisen", stellte sie fest. "Warum haben Sie einen solchen Antrag gestellt, wenn Sie gar nicht umziehen wollen?"

"Jemand von der Nachbarschaftshilfe hat das alles für mich erledigt", erklärte Fiona. "Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht aus. Ich brauchte bloß noch zu sagen, daß ich mit allem einverstanden bin."

"So ungefähr habe ich mir das gedacht! Wissen Sie denn auch, was man da in Ihrem Namen beantragt hat?"

"Drei Wohneinheiten in diesem Sektor, so nahe wie möglich an der Diagonale. Ich möchte in dieser Gegend bleiben, schon wegen der Kinder. Und alle meine Freunde leben hier." Sie sah unsicher zu Jonna auf. "Stimmt etwas nicht?"

"Das müssen Sie selbst beurteilen. Der Antrag lautet auf zwei Räume, und zur Lage wurden keine Wünsche genannt. Statt dessen haben Sie darum gebeten, daß die Anweisung so schnell wie möglich erfolgen soll. Das System ist gerade dabei, zwei Einheiten in der ersten Ebene für Sie bereitzustellen."

"Das verstehe ich nicht! Was soll ich in der ersten Ebene? Ich kenne dort niemanden. Und warum sind es nur zwei Einheiten? Wir sind doch zu dritt!"

"Hier ist eine Anlage, in der es heißt, daß Ihr Gastkind zu seinen Eltern zurückkehren will."

"Buddy?" fragte Fiona O`Connor verblüfft. "Das kann ich mir nicht vorstellen! Er hat kein Wort davon gesagt. Er ist bei uns, weil er sich bei uns wohlfühlt. Wenn es nicht so wäre, hätte er sicher nicht die letzten drei Jahre bei uns verbracht!"

Und damit hatte sie recht: Gastkinder konnten jederzeit und ohne Formalitäten zu ihren Eltern zurückkehren oder sich neue Gast-Eltern suchen. Es gab genug Bürger, die gerne Kinder um sich hatten, und andere, die zwar Kinder in die Welt setzten, sich dann aber kaum um sie kümmerten. Materiell gesehen litten die Kinder dabei keinen Schaden - das System sorgte für sie. Sie hatten Anspruch auf einen eigenen Wohnraum, wie auch auf alles andere, was sie eben brauchten. Die Nachbarschaftshilfe legte Wert darauf, daß Kinder bis zum zwölften Lebensjahr in Kontakt zu erwachsenen Bezugspersonen lebten, aber es war nichts dagegen einzuwenden, wenn die Kinder diese Bezugspersonen wechselten oder sich in großen Wohngemeinschaften organisierten.

"Er ist ein sehr selbständiger Junge", sagte Fiona. "Seine Eltern sind ihm ziemlich fremd. Und er und mein Sohn - die beiden sind schier unzertrennlich."

"Dann sollte man sie nicht ausgerechnet jetzt auseinanderreißen. Sind Sie damit einverstanden, daß ich den Antrag lösche und dafür sorge, daß Sie in diesen Räumen bleiben dürfen?"

"Warum tun Sie das?" fragte Fiona mißtrauisch.

"Die Sache mit dem Umzug wurde Ihnen gegen Ihren Willen aufgezwungen. Ist das nicht Grund genug?"

"Für mich ja - aber was erwarten Sie dafür?"

"Nichts. Sie und die beiden Kinder haben Kummer genug. Das mit der Wohnung muß nicht sein. Aber Sie können in der Tat etwas für mich tun: wenn Ihnen noch etwas zu Akira einfällt, irgend etwas, das mir weiterhelfen könnte, sagen Sie Ihrem Comco, daß Sie die Protektorin Harper sprechen möchten. Er wird wissen, wo ich zu finden bin."

"Ich werde daran denken", versprach Fiona O'Connor.

Sie trat auf Jonna zu, zögerte, dachte nach und reichte der Protektorin dann die Hand.

"Danke", sagte sie.

Was sagt man dazu! dachte Jonna, erstaunt und gerührt. Mir scheint, ich habe tatsächlich ein klein wenig ihr Vertrauen gewonnen. Vielleicht war es doch nicht so verkehrt, persönlich mit ihr zu sprechen!

"Ich danke Ihnen!" erwiderte sie.

Sie öffnete die Tür.


Die beiden Aufpasser von der Nachbarschaftshilfe waren immer noch da. Sie folgten Jonna die Rampe hinunter und die Diagonale hinab, bis zum Zentral-Lift. Sie ließen sie keine Sekunde lang aus den Augen, bis die Tür der Kabine sich schloß.

Noch während der kurzen Fahrt rief Jonna in der Außendienstzentrale von Mittelerde an und sorgte dafür, daß man Fiona O'Connor und die Kinder ab sofort rund um die Uhr im Auge behielt.

Nicht um sie zu überwachen.

Sondern um sie zu beschützen.

Vor allem vor der Nachbarschaftshilfe.


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