Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 10:
Der Morgen danach / 2
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Als das Bild sich aufbaute, kehrte die Erinnerung an den Traum der vergangenen Nacht zurück - an den ersten, in dem sie David gesehen hatte.

Die Erinnerung war von schmerzhafter Intensität.

Der Sessel hatte sich gemerkt, daß Jonna nicht per Cykon in Ogawas Perlen eintauchen wollte, also blieb er einfach nur ein Sessel. Aber wenn sie sich zurücklehnte und den Befehl gab, würde er sich zum Cykon entfalten, sie einhüllen und in Ogawas Welt versetzen. Dann würde sie die Wärme der Sonne fühlen, den Duft der Blumen riechen, den Bach, die Vögel und die Insekten hören, und wenn sie dann auch noch Davids Urne öffnete und mit der Perle kombinierte, konnten sie sich gemeinsam an den Bach setzen und das Wasser an den Füßen spüren.

Das Dumme war nur: Sie hatte keine Schwierigkeiten, mit fremden Urnen zu kommunizieren, aber Davids Urne hatte sie noch nie betreten. Sie brachte es einfach nicht fertig.

Cheroux hatte ihr wiederholt geraten, es zu tun:

"Sprich mit ihm. Es wird dir guttun. Glaube mir: hinterher ist alles viel leichter für dich!"

Aber Jonna hatte es schon seit jeher vermieden, Urnen aufzusuchen, deren Insassen ihr im Leben nahegestanden hatten. Wenn sie eine Urne besuchte, wußte sie, daß sie mit jemandem sprach, den es nicht mehr gab: die Urne machte den Tod für sie sozusagen amtlich, und das war eine Schwelle, über die sie nicht gehen mochte. Vor allem nicht bei David.

Nicht daß es irgendwelche Zweifel gab: er war tot. Und Jonna wußte das. Aber in irgendeinem Winkel ihres Gehirns saß immer noch der Rest einer tröstlichen Illusion, ein kleiner Funke Hoffnung, und sie wußte: er würde erlöschen, sobald sie Davids Urne öffnete.

Sie hatte Schwierigkeiten, den Tod zu akzeptieren. Er rückte allzu oft an sie heran. Manchmal dachte sie, es läge ein Fluch auf ihr: sobald sie jemanden ein wenig näher an sich heranließ, war sein Schicksal so gut wie besiegelt.

Einmal hatte sie das Cheroux gegenüber erwähnt. Seine Antwort war ebenso logisch wie nüchtern:

"Nun, ich lebe noch, wie du siehst!"

Sie hatte nicht den Nerv gehabt, ihm zu sagen, daß sie ihn gefühlsmäßig nicht zu jenen Menschen zählte, denen sie sich nahe fühlte. Es war nicht so, daß sie ihn nicht mochte. Er war weder Freund noch Feind. Er war ihr Observer - das war eine Kategorie für sich.

Auf dem Fenster erschienen die Tannen und der Bach, die Felsen und die Blumen.

Jonna starrte das Bild an. In seiner stillen Schönheit rührte es sie fast zu Tränen, aber es ließ sich nicht leugnen, daß es ohne die begleitende Klangkulisse nicht mehr ganz so wirksam war.

"Gib mir die Musik dazu!" befahl sie dem Comco. "Aber nur für eine Minute. Dann schaltest du wieder ab!"

Die geradezu hypnotische Wirkung war sofort spürbar.

"Und jetzt blende das Bild aus und laß mich nur die Musik hören!"

Die Musik allein bewirkte gar nichts - sie war ohne die Bilder sogar eher unangenehm. Und eigentlich war es auch gar keine Musik, sondern nur eine Aneinanderreihung von Tönen und Klängen, die beim ersten Hinhören kaum irgendwelche Zusammenhänge erkennen ließen.

Offenbar bedurfte es beider Komponenten. Nur wenn Bild und Ton zusammenkamen, ergab sich jener Effekt, der Ogawas Perlen so gefährlich machte.

"Ich habe die Perlen nach verborgenen Impulsen durchsucht", erklärte das System auf Jonnas Frage hin. "Ich habe nichts gefunden."

"Hast du auf Echos geachtet? Auf Resonanzen, die sich aus dem Zusammenwirken von Bild und Ton ergeben könnten? Vielleicht schaukeln sie sich gegenseitig hoch!"

"Ich habe nichts gefunden", wiederholte das System.

"Was ist mit den Trägerfrequenzen? Mit tieffrequenten Schwingungen - irgend etwas in dieser Art?"

"Auch da habe ich nichts gefunden. Es gibt keine Auffälligkeiten."

Unwillkürlich fühlte Jonna sich an die Sache mit der roten Kontrollampe im Portal erinnert, die das System nicht hatte wahrnehmen können. Aber das Portal war weit weg und längst nicht mehr aktuell. Camelot war etwas ganz anderes: hier konnte es solche Fehlfunktionen nicht geben.

"Sieh dir die Reaktionen der Bürger an", sagte Jonna nachdenklich. "Sind die nicht auffällig genug?"

"Das ist richtig", gab das System bereitwillig zu. "Aber ich finde keine Erklärung dafür."

"Na schön. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ganz von vorne anzufangen. In welchem Archiv finde ich die Original-Bilder, die Ogawas Perlen zugrunde liegen?"

"Ich habe keine passenden Originale gefunden."

"Sie sind nicht in den Archiven enthalten?" fragte Jonna überrascht.

"Nein."

"Wenn er sie nicht aus den Archiven geholt hat - woher hat er sie dann genommen?"

"Das läßt sich nicht ermitteln."

"Er hat sie natürlich bearbeitet, verfremdet, alles mögliche mit ihnen angestellt..."

Jonna verstummte und dachte nach. Das System enthielt sich jeden Kommentars.

Die Bürger liebten bunte Bilder, aber die echte, unverfälschte Natur erschien ihnen im Vergleich zu den farbenprächtigen Cyberwelten oft als fade. Darum hatten sie es sich angewöhnt, die aus den Archiven entliehenen Bilder nach ihren Vorstellungen zu "verbessern", indem sie sie miteinander kombinierten und durch allerlei dekorative Motive ergänzten. Auf diese Weise waren echte Kunstwerke entstanden, wie Giannis "Sonnenblumen auf dem Mars" oder die "Gewittergärten" von Pearl Tucker.

Alle Elemente, die in solchen Bildern enthalten waren, ließen sich zurückverfolgen. Hatte man die Originale, dann konnte man die einzelnen Schritte zur fertigen Montage nachvollziehen und die dazugehörigen Manipulationen aufdecken.

Warum sollte das ausgerechnet bei Ogawas Perlen nicht möglich sein?

"Du selbst hast diese Perlen berechnet", sagte Jonna gedehnt. "Du mußt doch wissen, woher er die Bilder genommen hat!"

"Sie kamen aus seinem Comco", erklärte das System.

"Und wie sind sie dort hineingekommen?" fragte Jonna ungeduldig.

"Er war Perlentaucher. Er hat sie in einer Urne gefunden und mitgenommen."

"Großartig! Und auf welchem Friedhof finde ich diese Urne?"

"Das weiß ich nicht. Akira Ogawa ist zu dieser Zeit mehrmals mit dem Scan-Code kollidiert. Die Spur wurde gelöscht."

Jonna starrte auf den Schirm, auf die leuchtenden Blumen, die Bäume, die Insekten, und plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie die Hände zu Fäusten geballt hatte, so fest, daß ihre Fingernägel sich schmerzhaft in die Handflächen drückten. Sie verspürte eine tiefe innere Unruhe.

Es geht schon wieder los! dachte sie bestürzt.

"Schluß!" sagte sie. "Ich fahre nach Mittelerde. Ich will mich mal da drüben umsehen. Ich möchte wissen, wo, wie und mit wem Ogawa gelebt hat. Vielleicht hilft mir das weiter."

Aber das war nur eine vorgeschobene Begründung. In Wirklichkeit war die Fahrt nach Mittelerde nichts anderes als eine Flucht - vor all diesen merkwürdigen Fakten, die so wunderbar glatt zueinander paßten und trotzdem kein vernünftiges Bild ergaben.


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