Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 5:
In der Außenwelt / 1
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Das Solarmobil kroch summend und brummend an der Flanke der Elcit-Pyramide entlang. Wo der Boden einigermaßen eben war, brachte Jonna das Fahrzeug, Maynards Drohungen zum Trotz, auf tollkühne dreißig Stundenkilometer, aber meistens war sie schon froh, wenn sie wenigstens ein Drittel dieser Geschwindigkeit halten konnte.

Die Solarmobile waren für Geländefahrten nicht gut geeignet. Sie stammten aus der alten Zeit. Damals hatte es hier draußen schöne glatte Fahrwege gegeben. Die Hüllenwächter waren mit achtzig Sachen zwischen den Pyramiden herumgekurvt und hatten sich bitter darüber beschwert, daß sie nicht noch schneller fahren durften.

Jonna umrundete die nördliche Spitze von Shangrilah. Ungeduldig folgte sie den verwinkelten Umrissen des Portals. Vor der Hauptschleuse bog sie nach links in Richtung Osten ab, benutzte den Scanner als Lotsen und ließ sich von ihm bis zu jenem Punkt führen, an dem die Fährte den Rand der Alten Stadt erreichte. Dort hielt sie an, stieg aus und sah sich um.

Vor ihr lag eine Schneise - eine Straße, die schnurgerade durch die Ruinen führte. Sie glich einem schmalen Tal, das zu beiden Seiten von schräg abfallenden Trümmerhalden begrenzt wurde. An einigen Stellen war die ganze Fahrbahn verschüttet und überwachsen. Hier und da ragten die Reste von Wänden und Fassaden aus den Schutthaufen hervor, sonnengebleichter Beton, von den rostroten Adern zerfallenden Metalls durchzogen. Zwischen den Trümmern wucherten gigantische Brennesseln. Sie waren schon jetzt rund vier Meter hoch, und sie würden noch weiterwachsen. Am Ende des Sommers würden sie bis zu acht Meter hoch aufragen.

Im schwefelgelben Pollenschlamm am Rand einer Pfütze fand Jonna ein paar Fußabdrücke - die Spuren von Stiefeln. Sie zeigten ein Muster aus schräg zusammenlaufenden Streifen. Einer der Abdrücke war so deutlich, daß Jonna sogar die auf dem Absatz eingeprägte Seriennummer des Schutzanzugs lesen konnte, zu dem die Stiefel gehörten.

Der Ausreißer hatte die einmal gewählte Richtung beibehalten. Er war geradewegs nach Osten gegangen - warum auch immer.

Jonna kehrte in den Transporter zurück und setzte die Suche fort.

Es war eine Fahrt durch eine merkwürdig stille Welt. Der Wind hatte sich gelegt. Die Brennesseln ließen in der Mittagsglut die Blätter hängen. Das Flimmern der heißen Luft über dem Straßenbelag erzeugte seltsame Effekte, als gäbe es Geister in der Stadt, schattenhafte Gestalten, die weit draußen die Straße kreuzten, rastlos auf der Suche nach der verlorenen Zivilisation.

Jonna hielt auf jeder Kreuzung an und suchte nach Spuren, aber sie konnte nichts finden. Sie folgte der Straße, fuhr immer weiter in Richtung Osten und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, daß das etwas mit Logik zu tun hatte. Denn warum hätte der Ausreißer eine der Seitenstraßen wählen sollen? Aber gleichzeitig war ihr sehr wohl bewußt, daß das Verhalten eines Ausreißers nur höchst selten logisch zu erklären war.

Nach etwa einer Stunde gelangte sie auf einen runden Platz, auf dem sich die Überreste eines Denkmals erhoben: ein geborstener Sockel, auf dem Sockel ein Pferd, auf dem Pferd ein Reiter. Die beiden Figuren bestanden aus Metall. Sie waren hohl. Der Rost hatte große Löcher hineingefressen, deren seltsam gefranste Ränder sich scharf gegen den strahlend blauen Himmel abhoben.

Ein paar Wespen schwirrten um das Denkmal herum und tauchten mit eifrigem Gebrumm in das Gras zu Füßen des metallenen Pferdes. Dort lag eine weiße Plastikschale mit Speiseresten darin. Offenbar war der Ausreißer umsichtig genug gewesen, um sich mit ein paar Vorräten zu versehen. Auch das war ungewöhnlich.

Jonna hob die Schale auf, schüttelte die Wespen vorsichtig hinaus und tat den Behälter in einen Plastikbeutel. Die Insekten umkreisten sie aufgeregt und folgten ihr noch ein kurzes Stück, blieben dann aber ratlos zurück.

Von nun an wurde die Spur des Ausreißers deutlicher, und ein paar Minuten später sah Jonna einen Schutzhelm vor sich auf der Straße liegen. Etwa hundert Meter weiter, mitten auf einer großen Kreuzung, erhob sich etwas, das wie eine kleine Windhose aussah, aber, wie Jonna aus bitterer Erfahrung wußte, keine war:

Das Gebilde bestand aus Tausenden von Insekten.

Langsam, zögernd, sehr vorsichtig fuhr sie weiter. In sicherer Entfernung hielt sie an. Zur Ausrüstung des Transporters gehörte ein Fernglas. Sie holte es hervor und und sondierte die Lage.

Anhand der verschiedenen Spuren konnte sie sich ziemlich genau zusammenreimen, was hier geschehen war.

Der Ausreißer mußte die Stadt vor zwei oder drei Tagen gegen Abend verlassen haben - wäre er am Tage aufgebrochen, hätte er keine so große Entfernung zurücklegen können. So aber war er die ganze Nacht hindurch tapfer marschiert und hatte nur einmal, zu Füßen des rostigen Denkmals, eine kurze Rast eingelegt, wahrscheinlich gegen Morgen, in der Dämmerung.

Es war eine erstaunliche Leistung: ein Stadtmensch, nachts, ganz allein in der Dunkelheit - es war fast unvorstellbar, daß er es bis zu dem runden Platz geschafft hatte. Er hatte sich eine Pause redlich verdient.

Aber dann war es Tag geworden. Mit dem Tag kam die Sonne, und es wurde wärmer. Dann wurde es heiß. Und schließlich wurde es sehr heiß. Vor allem im Innern des Schutzanzugs.

Der Ausreißer hatte den Helm abgenommen, um Luft zu bekommen - Luft, die voll war von Staub und Pollen. Hustenanfälle hatten ihn geschüttelt. Er hatte geniest, bis ihm das Blut aus der Nase geschossen war.

Mit seinen brennenden, tränenden Augen hatte er kaum noch etwas sehen können. Halbblind und in Panik war er herumgetappt und hatte sich dabei in den Schlingen der kriechenden Brombeerranken verfangen. Die scharfen Dornen hatten den Schutzanzug samt der darunterliegenden Haut aufgerissen.

Der Blutgeruch hatte die Fliegen angelockt. Als rasch wachsender Schwarm waren sie über den Ausreißer hergefallen, hatten sich in seine Augen gesetzt, in seine Ohren und in seine Nase, waren in das Innere des Anzugs gelangt, hatten das Blut gesaugt und Eier gelegt.

Die Maden dieser großen grauen Fliegen schlüpften schon nach wenigen Minuten. Sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich sofort in ihre Nahrungsquelle hineinzubohren. Sie hatten angefangen, den Ausreißer aufzufressen, als er noch am Leben war, und freiwillig würden sie diese Nahrungsquelle erst dann aufgeben, wenn nur noch die blanken Knochen übrig waren.

Der Ausreißer hatte offenbar zunächst gar nicht begriffen, was ihm bevorstand. Er besaß eine Waffe. Aber anstatt sie auf die einzig vernünftige Art und Weise zu benutzen, die einem in einer solchen Situation noch blieb, hatte er blindlings um sich geschossen: Es gab frische Einschußlöcher überall in den umliegenden Mauerresten.

Als die Waffe leergeschossen war, hatte der Ausreißer auf der Suche nach Ersatzmunition seine Tasche durchwühlt und ihren Inhalt über die ganze Kreuzung verstreut. Glücklicherweise hatte er gefunden, was er suchte, und sich schließlich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Neben einem Mauerrest war er zusammengebrochen.

Und dort lag er nun - tot, aber leider alles andere als einsam. Er war umgeben von Scharen überaus anhänglicher Freunde, die ihm ein lebhaftes Interesse entgegenbrachten, aufrichtig und frei von jeglicher Heuchelei: Sie hatten den Menschen aus der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes zum Fressen gern.

Es waren ihrer so viele, daß Jonna zunächst nur ein wildes Durcheinander von schwirrenden und krabbelnden Insekten sehen konnte. Dann versetzte irgend etwas die ganze Bande in Unruhe, der Schwarm hob sich, und für einen Augenblick wurde das Opfer deutlich sichtbar.

Jonna legte das Fernglas hastig beiseite, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie war dem Ausreißer unendlich dankbar dafür, daß er noch die Kraft gefunden hatte, die Sache mit eigener Hand zu beenden. Es war ihr schlimmster Alptraum, daß sie eines Tages einen finden könnte, der sich in einem ähnlichen Zustand befand, aber noch am Leben war.

"Verdammter, blöder Kerl!" sagte sie, schwankend zwischen Wut, Ekel und Mitleid. "Warum mußtest du bloß nach draußen gehen? Was hattest du hier zu suchen?"

Sie lehnte sich zurück, rieb sich die vom Sonnenlicht brennenden Augen und dachte allen Ernstes darüber nach, ob es nicht besser wäre, einfach umzukehren und zu behaupten, es sei nichts von ihm übriggeblieben. Aber dann schob sie - wie jedesmal - diesen Gedanken beiseite, zog Schutzhandschuhe an, stülpte sich eine Atemschutzmaske vors Gesicht, nahm einen Plastiksack von der Ladefläche des Transporters und machte sich daran, die Habseligkeiten des Ausreißers einzusammeln.


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