Unterwegs meldete sich Cheroux.
"Du brauchst das nicht zu tun", sagte er. "Du hast seit
Wochen keinen freien Tag mehr gehabt. Selbst eine Protektorin hat Anspruch
auf ein bißchen Rücksichtnahme!"
"Du vergißt, daß das System mir bereits einen offiziellen
Auftrag erteilt hat."
"Dem System kommt es nur darauf an, daß die Arbeit getan wird.
Von wem, ist ihm völlig egal. Du kannst den Auftrag getrost an einen
anderen weitergeben. Das System wird keinen Einwand erheben."
"In den letzten Jahren hat niemand außer mir solche Aktionen
durchgeführt. Kannst du mir verraten, wem du diesen Job jetzt plötzlich
anhängen willst?"
"Ogata ist gerade frei. Laß ihn das erledigen!"
"Ogata kommt ganz gut zurecht, solange er nur mit der Spritzpistole
in der Hand auf der Außenhaut einer Pyramide herumzuklettern braucht.
Für eine Rückhol-Aktion ist er nicht geeignet."
"Dann eben Haskell. Der treibt sich sowieso gerade in P-4 herum."
"Haskell braucht mittlerweile rund zwei Stunden, um sich zu immunisieren."
"Na und? Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Du hast selbst
gesagt, daß die Spur schon mindestens zwei Tage alt ist. Ob mit
oder ohne Schutzanzug: Kein Bürger kann da draußen so lange
überleben. Also brauchst du dich bei der Suche nicht zu überstürzen."
"Du vergißt dabei nur eines: Je länger wir warten, desto
weniger wird von dem Ausreißer übrig sein."
"Trotzdem solltest du gelegentlich auch mal an deine Gesundheit denken!"
"Ich bin völlig in Ordnung!"
"Unsinn. Du bist übermüdet und angeschlagen. Du bist wichtig
für uns alle. Wir können es uns nicht leisten, dich zu verlieren."
"Aber wenn der Ausreißer da draußen verloren geht..."
"Dann geht er eben verloren! Das bedeutet doch nicht gleich den Untergang
der Stadt. Das Gleichgewicht zwischen den biologischen und den mechanischen
Komponenten ist längst nicht so empfindlich, wie es offiziell immer
wieder dargestellt wird. Gerade du solltest das wissen."
"Aber die Verluste summieren sich. Hier ein bißchen, da ein
bißchen, und schon sind wir im Minus. Was dann?"
"Dann holen wir eben ein bißchen Grünzeug herein und gleichen
die Verluste damit aus!"
Sprachloses Entsetzen.
"Das ist gegen das Gesetz!" sagte Jonna.
"Es ist aber auf jeden Fall besser als ein Totalverlust. Und was
die Gesetze betrifft: Sie sind nur eine Richtschnur. Niemand verlangt
von dir, daß du dich an ihnen aufhängst. Außerdem ist
es auch früher schon so gemacht worden."
"Ich habe so etwas nie
getan, und ich gedenke auch nicht, jetzt damit anzufangen! Ich werde auf
gar keinen Fall lebende Wesen in der Außenwelt töten, nur um
hier in der Stadt einen Verlust an Biomasse auszugleichen!"
"Irrtum. Du wirst in jedem Fall lebende Wesen töten müssen,
wenn du deinen Auftrag erfüllen willst: Fliegen, Maden, Ameisen,
Wespen - wer weiß, was noch alles!"
"Du scheinst heute wirklich alles daranzusetzen, mir das Leben so
schwer wie möglich zu machen!"
"Falsch. Ich mache mir Sorgen um dich."
Glücklicherweise erreichte Jonna an diesem Punkt die Westschleuse
von Shangrilah.
"Tut mir leid, aber ich muß mich jetzt um die Sache mit dem
Tranporter kümmern!" sagte sie und schaltete ab.
Maynard erwartete sie bereits - ziemlich kampfeslüstern, wie ihr
schien.
Scheint, als hätten es heute aber auch wirklich
ALLE auf mich abgesehen! dachte sie deprimiert.
"Einen Transporter brauchen Sie?" fragte Maynard. "Na,
dann kommen Sie mal mit!"
Er führte Jonna zu einer der Garagen. Dort standen sage und schreibe
zehn Solarmobile, geputzt und auf Hochglanz poliert, wie Museumsstücke
nebeneinander aufgereiht. Es fehlte bloß noch, daß man sie
auf Podeste gehievt und mit goldfarbenen Kordeln umgrenzt hätte.
Jonna besah sich das Ganze mit gerunzelter Stirn. Sie war alles andere
als guter Laune.
"Na schön", sagte sie und atmete tief durch. "Knapp
an Fahrzeugen sind Sie offenbar nicht. Warum stellen Sie keins davon ins
Portal?"
"Das will ich Ihnen gerne sagen", erwiderte Maynard und betrachtete
die blitzenden Mobile mit geradezu väterlichem Stolz. "Wenn
ich so ein Schmuckstück im Portal oder in dessen Nähe deponiere,
ist es schon so gut wie weg."
"Wollen Sie behaupten, daß jemand dort herumgeht und Solarmobile
klaut?"
"Es ist eine Tatsache, daß die Wagen verschwinden."
"Ach ja? Wie viele sind denn schon verschwunden?"
"Sieben."
Damit hatte Jonna nicht gerechnet. Zwei oder drei wären eine gute
Ausrede gewesen, aber gleich sieben?
"Seit wann geht das so?" fragte sie mißtrauisch.
"Angefangen hat es im vorigen Jahr", erklärte Maynard.
"Da verschwanden drei innerhalb weniger Tage."
"Haben Sie das gemeldet?"
"Selbstverständlich!"
"Und?"
"Nichts. Man hat sie nicht wiedergefunden."
Wer, um alles in der Welt, konnte ein Interesse daran haben, Solarmobile
zu stehlen? Im Innern der Stadt war mit den Dingern nichts anzufangen.
Aber vielleicht hatte jemand sich über Maynards Hamsterei geärgert
und klammheimlich für eine Umverteilung der Fahrzeuge gesorgt. Die
anderen Schleusenmeister hatten schließlich auch so ihre kleinen
Eigenheiten.
"Ich werde mich darum kümmern", versprach Jonna. "Aber
nicht jetzt. Fassen Sie mal mit an!"
Maynard blickte bockbeinig drein. Für einen Augenblick sah es ganz
so aus, als sei er entschlossen, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen.
Aber dann besann er sich doch eines Besseren und half Jonna, ein Gefährt
mit hohen Rädern, gläsernem Cockpit und kastenförmigem
Laderaum in die Schleuse zu schieben.
Er blieb neben der inneren Schleusentür stehen, schweigend, mit düsterer
Miene, die Hände in den Hosentaschen. Als Jonna sich daranmachte,
die Ausrüstung des Transporters zu überprüfen, traf Maynard
keine Anstalten, ihr zur Hand zu gehen.
Sie ließ ihn in Ruhe. Maynards abweisende Haltung war ihr nicht
fremd. Fast alle Schleusenmeister reagierten so oder ähnlich. Sie
hatten Angst um die Solarmobile, und das nicht ohne Grund. Es gab im gesamten
Stadtgebiet nur noch rund sechzig dieser Fahrzeuge. Es war so gut wie
unmöglich, Ersatzteile zu beschaffen, geschweige denn, neue Solarmobile
zu bauen.
"Rasen Sie nicht sinnlos in der Gegend herum", sagte Maynard
knurrig, als Jonna mit ihren Vorbereitungen fertig war. "Und wenn
Sie nicht spätestens bei Einbruch der Dunkelheit wieder hier sind,
werde ich Ihnen höchstpersönlich den Hals umdrehen!"
Jonna ließ die Tür zum Laderaum zufallen, drehte sich um und
musterte den Schleusenmeister. Sie gestattete sich ein Lächeln. Maynard
war klein, dick und kahlköpfig und sah alles andere als sportlich
aus.
"Das dürfte Ihnen Schwierigkeiten bereiten", bemerkte sie
spöttisch.
"Das ist mir die Sache wert!" erklärte Maynard verbissen.
Er stand immer noch an der Tür, hoch aufgerichtet, das Kinn vorgestreckt,
und starrte die Protektorin herausfordernd an - kampfbereit.
"Ich habe durchaus Verständnis für Sie", sagte Jonna
unwillig. "Aber bei meiner Arbeit geht es um Menschenleben und um
die Sicherheit der Stadt, und das sollten Sie gelegentlich auch mal bedenken!"
"Wenn dieser Ausreißer wirklich existiert, ist es ja in Ordnung",
erwiderte Maynard störrisch. "Ich habe bloß was dagegen,
wenn ihr Protektoren sinnlos da draußen rumkurbelt und mir die Wagen
zuschanden fahrt, für nichts und wieder nichts."
"Kein Protektor würde so etwas tun!"
"Na, dann fragen Sie mal Sikkim!"
Der schien in letzter Zeit groß in Form zu sein, wenn es darum ging,
Ärger heraufzubeschwören.
"Was hat er getan?" fragte Jonna.
"Er kam im vorigen Frühling zu mir und verlangte einen Wagen.
Und dann ist er einen ganzen Tag lang draußen geblieben - ich weiß
bis heute noch nicht, warum!"
"Er muß einen sehr wichtigen Grund gehabt haben", versicherte
Jonna.
"Er hat niemanden mitgebracht!" verkündete Maynard.
"Das würde mich auch sehr wundern. Sikkim führt keine Rückholaktionen
durch."
Er hatte das noch nie gekonnt. Es war zu gefährlich für ihn.
Aber wozu hatte er dann überhaupt einen Wagen gebraucht?
"Wahrscheinlich wollte er einen Notausstieg über einem der Tunnel
kontrollieren", sagte Jonna, aber das diente eher ihrer eigenen Beruhigung,
als daß sie Maynard ernsthaft eine Erklärung für Sikkims
Verhalten liefern wollte.
"Dazu hätte er nicht den ganzen Tag gebraucht!"
"Vielleicht hatte der Wagen einen Defekt."
"Wie hat er dann sechzig Kilometer weit damit fahren können!"
Jonna, die eben in den Transporter steigen wollte, fuhr herum:
"Wie, bitte?"
"Sechzig Kilometer!" wiederholte Maynard mit offensichtlicher
Genugtuung. "Ich habe es auf dem Kilometerzähler gesehen. Und
erzählen Sie mir bloß nichts von Kontrollfahrten im Zwischenraum!"
"Aber etwas anderes kann es nicht gewesen sein", erwiderte Jonna
ratlos.
"Wenn er nur zwischen den Pyramiden herumgefahren wäre, hätte
er jederzeit eine Schleuse ansteuern können", stellte Maynard
fest. "Statt dessen hat er angeblich stundenlang draußen zwischen
Shangrilah und Atlantis festgesessen. Und nun frage ich Sie: Wenn der
Wagen sich gar nicht bewegt hat - wie konnte dann der Zähler weiterlaufen?"
Eine gute Frage.
"Vielleicht war er kaputt."
"Das war er mit Sicherheit nicht. Ich habe den Wagen vor der Fahrt
überprüft. Er war in bester Ordnung."
Jonna warf einen Blick auf ihren Scanner. Fast dreizehn Uhr. Hier drinnen
spielte das kaum eine Rolle, aber draußen schon.
"Haben Sie Sikkim darauf angesprochen?" fragte sie ungeduldig.
"Er hat nicht geantwortet. Am nächsten Tag war die Anzeige gelöscht,
und ehe ich noch irgend etwas tun konnte, war der Wagen verschwunden.
Man hat ihn uns ohne jede Erklärung weggenommen. Ich konnte nicht
mal rauskriegen, wo das verdammte Ding geblieben ist!"
Das klang wirklich seltsam. Aber mußte Maynard ihr diese Geschichte
ausgerechnet jetzt auftischen?
"Wenn Ihnen dieses Thema so viel Kopfzerbrechen bereitet", sagte
Jonna, "sollten Sie Sikkim anrufen und ihm konkrete Fragen stellen.
Wenn seine Antworten Ihnen nicht genügen, wenden Sie sich bitte an
Zentrale."
"Genau das habe ich getan", erklärte Maynard. "Aber
das Ergebnis war nicht zufriedenstellend."
"Mit anderen Worten: Die Antworten, die Sie erhalten haben, entsprachen
nicht dem, was Sie hören wollten."
"Es waren lauter dumme Ausreden!" behauptete Maynard wütend.
Jonna beobachtete ihn nachdenklich. Sie konnte seine Aufregung verstehen,
denn wie man es auch drehte und wendete: Es ergab keinen Sinn.
Wo, zum Teufel, hatte Sikkim sich herumgetrieben? Wie hatte er es auf
diese ominösen sechzig Kilometer gebracht? Hatte er auf Anweisung
des Systems gehandelt? Wenn ja, warum hatte man gerade ihm einen solchen
Auftrag erteilt? Warum nicht Jonna, die nicht nur aus medizinischen Gründen
viel besser dafür geeignet war, sondern die darüber hinaus schon
seit Jahren darauf brannte, endlich mal eine längere Fahrt in die
Außenwelt unternehmen zu können?
Dieser Gedanke gab ihr den Rest. Ihre Laune sank dem absoluten Nullpunkt
entgegen.
"Ich habe jetzt beim besten Willen keine Zeit, mich um diese Angelegenheit
zu kümmern", sagte sie schroff.
Sie stieg in den Wagen, ließ den Motor an und steckte den Scanner
an die Windschutzscheibe. Maynard murmelte unwillig vor sich hin, setzte
dann aber doch eine dunkle Brille auf und öffnete die Schleuse.
Jonna manövrierte den Transporter nach draußen.
"Passen Sie auf den Wagen auf!" schrie Maynard ihr nach.
<- eins
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