Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
Prolog:
Ende eines Zeitalters
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Wir sind die Größten, und wir gedenken es zu bleiben. Wir werden die sich ankündigende Katastrophe überstehen. Wir sind die Krone der Evolution. Wir werden das in den Griff kriegen.

Genau wie diese neue Krankheit, die sich ausbreitet wie eine Seuche. "RAR" nennt man sie, "Rapid Allergic Reaction", eine allgemeine Überempfindlichkeit gegenüber allen Einflüssen, denen wir Menschen in unserer täglichen Umgebung ausgesetzt sind.

Die ersten Kinder, die damit geboren wurden, starben oft schon in den ersten Lebenstagen, bevor man überhaupt wußte, was ihnen fehlte.

Das haben wir geändert.

Na schön, sie haben es ein bißchen unbequem in ihren Schutzanzügen, mit ihren schwarzen Brillen und ihren Atemmasken, und manche können ihr steriles Kämmerchen niemals verlassen. Aber immerhin: sie leben! Ist das nichts? Und den Rest werden wir auch noch schaffen!
   
 

Also gut, zugegeben, das Problem ist ein bißchen größer als wir dachten. Die Zahl der RAR-Patienten wächst sehr schnell. So viele Schutzanzüge können wir gar nicht anfertigen, so viele sterile Kammern nicht bauen. Und ehrlich gesagt: so viel Elend können wir nicht ertragen.

Und so laßt uns denn eine Stadt bauen für all jene, denen unsere normale Welt so weh tut, daß sie nicht mehr unter uns leben können. Eine Stadt, die all dieses Leid ein für allemal vor unseren Augen verbirgt, damit wir es nicht länger mitansehen müssen.

Laßt uns eine neue Welt schaffen im Innern dieser Stadt, eine Welt ohne Geld, ohne Zwang, ohne Arbeit, ohne Mühsal und Qual. Laßt uns das vollkommene Sanatorium schaffen für unsere lebenden Toten, ein Paradies für die Kranken, damit sie niemals den Wunsch haben, in unsere Normalität zurückzukehren.

Laßt uns Wächter einsetzen an allen Toren der Stadt. Wächter, die jeden hineinlassen, der in die Stadt gehört. Wächter, die niemanden herauslassen, der in der Stadt und von der Stadt gelebt hat. Wächter, die das Paradies der Kranken bewachen, so daß niemand daraus entweichen kann.

 
 


Eigentlich haben wir die Kranken in die Stadt geschickt, damit sie dort sterben, außerhalb unserer Sichtweite. Aber sie leben. Sie vermehren sich sogar. Sie sind zu einem eigenen Volk im Innern ihrer Stadt geworden.

Sie sind nicht fähig, in unsere Welt zurückzukehren - sie müssen in ihrem Sanatorium bleiben. Dafür taten sie uns anfangs furchtbar leid. Es war, als würden wir sie lebendig begraben. Aber einige von uns, die wir von außen ihre Welt bewachen, beobachten und steuern, beneiden sie mittlerweile um ihr Leben dort drinnen.

Denn hier draußen ist inzwischen nichts mehr so, wie es sein sollte.

Ein bißchen mehr Wärme, dachten wir, na und, was soll´s? Wir machen Sibirien zur Kornkammer, ziehen Pfirsiche in Alaska und Tomaten in Feuerland - wo liegt da das Problem? Ein bißchen Gentechnik hier, ein bißchen Plastikfolie dort - das wird ein tolles Leben! Und schließlich hat die Erwärmung ja auch noch andere Vorteile: geringerer Energiebedarf, weniger Heizkosten. Es wird weniger Öl und Gas verbrannt, die Leute brauchen nicht mehr um die halbe Welt zu düsen, um ein bißchen Sonne abzukriegen, und so verringert sich ganz automatisch die Menge der Schadstoffe. Dann wird sich das von selbst wieder zurechtrütteln.

Aber leider verläuft das alles nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben. Es entwickelt sich viel schneller als gedacht. Die Gletscher in den Gebirgen sind längst verschwunden. Kein Eis hält das Gestein der hohen Berge mehr zusammen, sie stürzen herab, nur noch Schutt und Geröll, füllen die Täler und begraben alles unter sich, was ihnen in die Quere kommt. Die von den Gletschern gespeisten Flüsse und Seen sind trocken und leer. Orkane nie geahnter Stärke rasen um den Erdball. Regenfluten spülen alles davon, was ihnen im Wege steht. Dürre, Hitze und Kälteeinbrüche vernichten die Ernten weltweit.

 
 


Die Polkappen sind längst dahingeschmolzen, kein Eis, keine Gletscher mehr, nirgendwo. Die großen Meeresströmungen sind zum Erliegen gekommen. Und natürlich ist der Meeresspiegel stark angestiegen.

Das sagt sich so leicht. Aber es hat Folgen.

Wasser ist eine verdammt schwere Angelegenheit, und unter den Ozeanen ist die Erdkruste am dünnsten. Sie senkt und biegt sich unter dem wachsenden Druck wie ein Kuchenblech, das an allen Ecken überschwappt. Gleichzeitig hat sich der Druck auf all jene Gebiete, die unter einem Eispanzer lagen, vermindert. Erdbeben nie gekannter Häufigkeit und Intensität sind die Folge. Neue, gewaltige Vulkane brechen auf.

Der höhere Meeresspiegel bedeutet, daß der Mond jetzt eine viel höhere Flutwelle um den Globus schleppt. Das beeinflußt die Geschwindigkeit, mit der sich die Kontinentalschollen bewegen. Eine langfristige Sache, deren Auswirkungen erst in Jahrtausenden spürbar werden? Das dachten wir bei der Erwärmung auch, und wieder haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Auf dem Meeresgrund brechen schon jetzt neue vulkanische Spalten auf.

Wärme von oben, Wärme von unten: Das Methan-Eis in der Tiefsee löst sich auf. Gewaltige Gas-Ausbrüche lassen das Meer aufschäumen wie eine Sprudelflasche. Jedes Schiff, das in einen solchen Blasenteppich gerät, versinkt wie ein Stein. Unmengen von Methan gelangen in die Atmosphäre und tragen zu ihrer immer schnelleren Aufheizung bei.

Blasen im Wasser, vulkanischer Staub in der Luft, Orkane, Beben, Flutwellen und Brände - die globalen Transportwege sind praktisch nicht mehr existent. Und kaum ein Land, das noch autark wäre! Kein Nachschub an Rohstoffen und Nahrungsmitteln - für niemanden mehr. Hunger, Not und Seuchen beherrschen die Welt.

 
 

Asche und Staub haben den Himmel verfinstert - weltweit. In der Dunkelheit hungern sich die letzten Wälder zu Tode. Fehlendes Licht und zu viel Wärme töten das Plankton in den Meeren: als riesige, stinkende Schaumfluten kommt es an Land. Feuersbrünste fressen sich durch die toten Wälder. Der Regen ist schwarz von Asche.

Kaum noch grüne Pflanzen, keine Wälder, kein pflanzliches Plankton - kein Nachschub an Sauerstoff. Die Brände tun ein übriges und verschärfen das Problem.

Sauerstoffmangel heizt die Aggressionen auf - das war schon lange bekannt. Aber jetzt geschieht es im ganz großen Stil. Überall auf der Erde herrscht Krieg, unerbittlicher als je ein Krieg zuvor. Jeder kämpft gegen jeden. Menschen töten für einen Bissen Brot, für einen Schluck Wasser, für ein schützendes Dach über dem Kopf und immer öfter einfach nur um des Tötens willen.

Alle kulturellen und moralischen Werte haben ihre Bedeutung verloren. Kampf und Mord, wohin man schaut.
 
 


Große Gebiete der Erde sind verstrahlt, vergiftet, verseucht. Alles Leben stirbt. Meere, Flüsse und Seen sind stinkende Totengruben. Das Land ist übersät mit Leichen - menschlichen, tierischen, pflanzlichen Leichen.

Nur die Kranken in ihrem Sanatorium sind geborgen im Innern ihrer hermetisch abgeschlossenen Welt.

In der Stadt gibt es Nahrung, Wasser und saubere Luft, dort gibt es Kunst, Kultur und Menschlichkeit. In der Stadt ist Wärme. In der Stadt ist Barmherzigkeit.

Es ist an der Zeit, daß auch wir, die Wächter, die wir im Schutz der riesigen Elcit-Pyramiden überlebt haben, uns zurückziehen.

Aber das wird nicht das Ende sein. So schnell geben wir uns nicht geschlagen. Wir haben weitreichende Pläne, und wir gedenken sie zu verwirklichen.

Natürlich nicht jetzt gleich. Noch ist es düster dort draußen, lebensgefährlich, und auch für unsere Kinder wird diese Welt noch kein freundlicher Ort sein. Generationen werden kommen und gehen, bis der Staub sich setzt und Pflanzen aus der Asche sprießen.

Aber dann, eines Tages...

Eines Tages!
          
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