Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 1
Der Geist von Shangrilah / 1
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Ein bestimmter Sektor in Camelot hatte vor einigen Tagen seltsame Schwankungen in der Sauerstoff-Versorgung gemeldet. Dem hatte Jonna Harper nachzugehen. Eine wichtige Sache, sicher, aber nach sechzehn Stunden Arbeit hatte sie wahrhaftig genug davon.

Sie rieb sich die brennenden Augen.

Wenn ich so weitermache, werde ich bald selbst unter seltsamen Schwankungen leiden, dachte sie. Ich werde vom Stuhl kippen und einschlafen!

"Cheroux, bist du da?" fragte sie laut. "Verdammt, ich bin müde! Laß mich endlich eine Pause machen!"

Keine Antwort.

Wahrscheinlich schläft er längst, dachte Jonna deprimiert. Er hat mich vergessen. Hat sich hingelegt und läßt mich hier schuften! Es ist zum...

Das Bild auf dem Schirm zuckte - ein elektronisches Blinzeln, das es eigentlich gar nicht geben durfte.

Nicht auch das noch! Nicht der! Nicht jetzt!

"Wo ist er hin?" fragte sie seufzend.

Der Comco registrierte ihren Tonfall und verzichtete auf jede Bemerkung.

Auf dem Schirm erschien ein symmetrisches Muster, kompliziert und verschlungen wie ein Labyrinth - eine schematische Darstellung der zentralen Speicher von Camelot. Innerhalb dieses Musters bewegte sich ein winziger Punkt, tastete sich hindurch wie ein Putzer durch einen Bastelraum voller Schnipsel.

Dieser Punkt war ein alter Bekannter. Sein Ausgangspunkt befand sich drüben in der vierten Pyramide - das war alles, was man bisher über ihn herausgefunden hatte. Mittlerweile war er ein stadtbekanntes Phänomen. Den "Geist von Shangrilah" nannte man ihn.

Jonna war der festen Überzeugung, daß es ein Mensch war, der dahintersteckte - ein Dieb, ein Surfer, irgendein Schlaumeier, der sich einen Spaß daraus machte, die Leute vom Städtischen Dienst auf Trab zu halten. Jonnas Kollegen dagegen tendierten eher zu der Auffassung, daß es sich um einen Irrläufer handelte, einen der zahllosen Sweeper, die wie elektronische Träume durch das System schlüpften und Datenschlacken abbauten. Manchmal machten solche Putzprogramme sich selbständig, trugen vermeintliche Schlacken ab, wo es gar keine gab, oder kippten einen Haufen Abfälle mitten in einen aktiven Sektor. Dann konnte es zu bizarren Zwischenfällen kommen. Die Aktionen mancher Geister wirkten durchaus gezielt, fast wie Sabotage. Eine gestandene Protektorin konnte sich entsetzlich lächerlich machen, wenn sie darauf hereinfiel.

Jonna beobachtete das wandernde Pünktchen.

Dreh ab!
dachte sie ärgerlich, a
ber der Geist von Shangrilah wanderte unbeirrbar weiter, hinein in die Peripherie der vegetativen Regelkreise.

Dort gab es offiziell nichts, womit ein Bürger etwas anfangen konnte. Andererseits hatte Jonna schon mal einen herausgeangelt, der es für eine tolle Idee hielt, Achterbahn auf einer Klimaspirale zu fahren - er hatte keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, daß er damit die gesamten vier Millionen Einwohner von Camelot in Gefahr brachte.

Normalerweise kamen solche Leute nicht allzu weit - dafür sorgten die Scan-Sequenzen. Die wirkten zwar auf den ersten Blick ganz witzig, wegen der Art und Weise, wie das System sie visualisierte (sie kamen als Gullis daher, als Dusch-Abläufe, Müllschächte oder Klospülungen), aber was sie taten, war absolut nicht komisch. Die Scan-Sequenzen waren Löschprogramme, die man zu Diebstahlssicherungen umfunktioniert hatte. Wer ihnen zu nahe kam, verlor unter Umständen seine gesamten persönlichen Daten und mit ihnen seine elektronische Unsterblichkeit. Den meisten Bürgern war ihre Unsterblichkeit immerhin wichtig genug, daß sie sich von den städtischen Speichern fernhielten und auch sonst alles vermieden, was sie in Kontakt mit den gefräßigen Sequenzen bringen konnte.

Für den Geist von Shangrilah galt das leider nicht. Das war das Hauptargument derer, die in ihm einen fehlgeleiteten Sweeper vermuteten: Kein Bürger, so sagten sie, wäre so unverschämt unvorsichtig wie dieser Geist. Andererseits hatte der Geist in punkto Unsterblichkeit offenbar gar nichts zu befürchten, denn beim System genoß er allem Anschein nach völlige Narrenfreiheit. Was er auch anstellte - sein elektronisches Gedächtnis blieb ihm erhalten. Seit vier Jahren löste er einen Alarm nach dem anderen aus, aber die Fallen in den Siegeln blieben stets leer, und die Aufzeichnungen bewiesen, daß er während der ganzen Zeit noch keinen einzigen Datenabfluß ausgelöst hatte.

Das Schlimmste aber war, daß es nichts gab, was ihn aufhalten konnte. Gerade eben tauchte er in einen der streng geschützten Speicher hinein, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Er rutschte durch das Siegel, wie eine Nudel durch die Zinken einer Gabel - zack, weg war er.

Aber während er sich in das Siegel hineinschlängelte, konnte Jonna etwas Neues an ihm wahrnehmen: die Spiegelung einer Signatur. Kein Zweifel, der angebliche Geist war diesmal in einem Cyber-Kokon unterwegs.

Und das, mein Freund, dachte Jonna, ist ein mächtig großer Fehler!

Während der Geist ungeniert in dem Speicher herumschnüffelte, baute Jonna draußen in aller Eile eine Falle für ihn auf, die auch prompt ein paar Minuten später zuschnappte.

Zuerst verhielt der Geist sich ganz still, als sei er starr vor Schreck. Dann begann er drinnen herumzuwandern. Und plötzlich glitt der verdammte Kerl durch die Wand der Falle hindurch und machte sich davon.

Mist! dachte Jonna wütend.

Sie erwischte gerade noch einen Zipfel der Signatur, konnte den Geist zwar nicht festhalten, hielt aber eine Spur in der Hand, eine elektronische Angelschnur, die sie nur noch einzuholen brauchte.

Der Geist wußte das, geriet in Panik, schlug einen Haken...

...und landete mitten in einem Urnenfeld.


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