Mein
wohl skurrilstes Weihnachtsfest fand 1948 statt, in Lübbenau im Spreewald,
am Topfmarkt Nr. 4, ganz oben unterm Dach. Ich war damals viereinhalb
Jahre alt, woraus sich schließen läßt, daß es ein
wirklich einprägsames Ereignis war. Daß ich es so genau datieren
kann, liegt an meinem Vater: der war damals noch bei uns in Lübbenau.
Das nächste Weihnachten verbrachte er bereits in Berlin.
Der Heiligabend lag bereits hinter uns. Es war der Morgen danach, noch
ziemlich früh. Es herrschte jene seltsam ungemütliche Stimmung
von noch nicht gemachten Betten, lüftenden Decken über den Stuhllehnen
und wintergrauem Morgenlicht. Der Kachelofen war noch nicht angeheizt.
Es
war kalt. Der Weihnachtsbaum stand nahe dem Fenster auf einem Tisch und
wirkte ohne Kerzenlicht merkwürdig nackt und nüchtern. Selbst
der handgeblasene Christbaumschmuck aus dem Erzgebirge blickte glanzlos
und trübe drein - keine Spur von Weihnachtszauber. Auch kein Kaffee-
und Frühstücksduft - es waren die mageren Nachkriegszeiten.
Zu allem Überfluß hing mir die Enttäuschung vom Abend
davor noch im Kopf herum.
Zu einem Weihnachtsfest gehörten für mich damals neben dem Weihnachtsbaum
zwingend zweierlei: Geschenke und Süßigkeiten. Kurz vor Weihnachten
waren ein Paket und ein Päckchen aus dem Westen eingetroffen. Meine
Mutter hatte die beiden vorsichtshalber auf den Kleiderschrank gestellt.
Ich hatte die beiden Kartons so oft angestarrt, daß ich ihren Inhalt
bereits plastisch vor mir sah: Berge von Schokolade, leckere Pfefferkuchen,
mit Marmelade gefüllte Plätzchen mit bunten Zuckerstreuseln
darauf, Marzipan und Konfekt, dazu vielleicht ein Buch, Zeichenpapier
und Buntstifte. Natürlich würde ich mir das alles mit meinen
großen Brüdern teilen müssen, aber das große Paket
war wirklich sehr groß!
Inzwischen
war die Katze aus dem Sack und ich am Boden zerstört.
Auf dem Bunten Teller lagen nur ein paar von Mutters selbstgebackenen
Honigkuchen - fast ohne Honig, und die fünf halben Mandeln an den
Ecken und in der Mitte waren in Wirklichkeit halbierte Kürbiskerne.
Der Zuckerguß auf den Honigkuchen-Kometen war so schwindsüchtig,
daß man durch ihn hindurchsehen konnte. Nirgends ein Hauch von Schokolade.
Auch keine Buntstifte. Ich saß stumm da und starrte auf mein Geschenk,
den Tränen nahe.
Dort
neben dem Baum saß es, groß, rotbackig, mit blonden Haaren
und vornehm gerüschter Haube, mit schwarzen Lackschuhen und allem
Drum und Dran: eine richtig große Puppe, fast so groß wie
ich selbst.
Im ersten Moment war ich gar nicht so abgeneigt gewesen. Ich wollte sie
ergreifen und an mich drücken. Aber das wurde mir sofort und in aller
Strenge untersagt: dies war eine Puppe mit Porzellankopf - Vorsicht, zerbrechlich,
berühren verboten!
Was
sollte ich mit einer Puppe, mit der ich nicht spielen konnte? Mal abgesehen
davon, daß Puppen sowieso nicht mein Fall waren.
Neben der Puppe lag noch eine kleine Figur mit meinem Namen darauf, ein
Weihnachtsmann aus einer grauweißen Masse, bunt bemalt. "Ah!"
dachte ich und schmeckte schon das Marzipan auf der Zunge. Im letzten
Moment bemerkte ich den seltsamen Geruch, fein parfümiert: der Weihnachtsmann
kam von Tante Hilde, der Schwester meiner Mutter. Die war (so hörte
ich es Tag für Tag) ziemlich verrückt. Das mußte sie wohl
auch sein, denn welcher normale Mensch würde einem kleinen Mädchen
in diesen mageren Zeiten zu Weihnachten ein Stück Seife schenken?
In
meine trübe Stimmung hinein drang ein Klopfen. Noch ehe einer von
uns antworten konnte, wurde die Wohnungstür aufgerissen, und was
dann über uns hereinbrach, hätte jedem Slapstickfilm zur Ehre
gereicht: Herein
stürmten (gefolgt von ihrer verzagt wirkenden Mutter) zwei Nachbarskinder,
ein Junge und ein Mädchen, beide etwas - hm - lebhaft.
Das Mädchen rannte ins Zimmer, entdeckte die Puppe, riß sie
an sich, rannte mit seiner Beute weg, stolperte über die Türschwelle,
die Puppe knallte auf den Boden und zack, schon war der Porzellankopf
halbiert, als hätte Sindbad der Seefahrer ihn mit seinem Krummschwert
entzwei gehauen. Die beiden Hälften schaukelten auf den Dielen wie
zwei sonderbare Teetassen bei einer Kannibalen-Party.
Der
Junge musterte inzwischen in Sekundenschnelle das sonstige Angebot, ließ
die honiglosen Honigkuchen links liegen, ergriff den Weihnachtsmann, biß
ihm den Kopf ab, zerknackte ihn zwischen den Zähnen, stopfte den
Körper hinterher und kaute und würgte und schluckte das Ganze
eilig hinunter, ehe es ihm jemand streitig machen konnte.
Das
alles ging so schnell, daß ich kaum hinterherkam. Ich starrte nur
noch auf sein Gesicht. Es durchlief das gesamte Spektrum von Gier über
Triumph, aufkeimender Enttäuschung, Verwunderung, Wut und Ekel samt
den damit verbundenen Farbveränderungen von normal über rosig
nach grün. Kurz nachdem er grün anlief, schrie er wie am Spieß
(er begann bereits zu schäumen), wollte in seiner Panik Schutz bei
seiner Mutter suchen und riß bei dieser Gelegenheit den Weihnachtsbaum
um. Der Baum fiel vom Tisch und mit all seinem schönen handgeblasenem
Glasschmuck auf den Boden - krach, klirr, klimper.
Und so waren binnen weniger Augenblicke der Baum, meine beiden Weihnachtsgeschenke
und der klägliche Rest an Feststimmung erfolgreich ruiniert. Die
Nachbarsfamilie verzog sich in Windeseile, die Mutter tröstete das
heulende Mädchen, der Junge schäumte und schrie, die Tür
schloß sich - wie ein Spuk war alles vorbei. Wir blieben sprachlos
zurück und starrten auf das Chaos, das sich uns darbot. Bis mein
Vater zu brüllen begann: sein schöner handgeblasener Christbaumschmuck!!!
Ich
wünsche euch allen körbeweise Kraft und Mut. Laßt euch
nicht unterkriegen, von nichts und niemandem.
Möge das neue Jahr euch gut behandeln!
Marianne Sydow am 25.12.2012
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