Die schönsten Weihnachtsfeste erlebte ich in den Jahren 1958 bis
1961.
Damals
gehörte ich einem semiprofessionellen Chor an. Wir nannten uns die
"Tegeler Singemädel", und wir waren gut. Wie waren sogar
sehr gut. Und darum waren wir in der Weihnachtszeit komplett ausgebucht.
Auf bis zu drei Weihnachtsfeiern am Tag haben wir gesungen, a capella,
ein wechselndes, den jeweiligen Verhältnissen angepaßtes Programm
- was Rührseliges für die Alten, was Lustiges für die Kinder,
was Klassisches für Lehrer, Politiker und Freimaurer. Wir lernten
Garderoben kennen, die diesen Namen wirklich nicht verdienten, holten
uns Erkältungen auf zugigen Minibühnen und wurden mit Kakao
und Kuchen bewirtet, bis sie uns zu den Ohren rauskamen. Und so gut wie
immer gab man uns auch noch Tüten voller Süßigkeiten mit
auf den Weg.
Natürlich war nicht immer der ganze Chor dabei, denn wir gingen alle
auf unterschiedliche Schulen und hatten
höchst unterschiedliche Stundenpläne. Manche Weihnachtsfeiern
fanden abends statt, unsere Jüngsten waren neun, da streikten mitunter
die Eltern. Bei den spät gelegenen Feiern gab es oft die teureren
Süßigkeiten, so daß sich der ganze Segen etwas unregelmäßig
über uns ergoß. Und darum gab es eine Regel: wir lieferten
das ganze Zeug schon im Bus an die Chorleitung ab. Spätestens nach
der dritten Feier hatten wir uns die Lebkuchen und die Domino-Steine sowieso
übergegessen, und die nahezu tägliche Kakao-und-Kuchen-Fütterung
verdarb uns zusätzlich den Appetit.
In
den allerletzten Tagen vor dem Fest, wenn die allgemeine Geschenke-Kauf-Panik
ausbrach und wir keine Termine mehr hatten, fand die letzte Weihnachtsfeier
statt - unsere eigene. Die Süßigkeiten wurden gerecht verteilt,
und dazu gab es ein Geschenk: ein Buch, ein Spielzeug, irgend etwas, das
wir uns gewünscht hatten, denn wir hatten ja nicht nur für Fressalien
gesungen, sondern auch für Geld. Unsere Eltern waren eingeladen,
auch manche Geschwister kamen, und wenn wir bei dieser Feier etwas sangen,
dann nur für uns selbst und zu unserem eigenen Vergnügen.
Unsere
letzte Weihnachtsfeier? Das stimmt nicht ganz - es galt nicht für
alle. Einige von uns, meist nicht mehr als sechzehn bis zwanzig von den
älteren Mädchen, hatten noch einen allerletzten Termin. Die
Teilnahme daran war absolut freiwillig - es war uns eine Ehrensache. Bei
dieser ganz speziellen Feier bekamen wir keine Süßigkeiten
geschenkt - dort waren wir es, die Geschenke brachten. Und das größte
Geschenk was unsere bloße Anwesenheit und unsere Zeit. Denn diese
Feier fand dann statt, wenn alle anderen bereits ihre Geschenke auspackten:
am Heiligen Abend, wenn es dunkel wurde.
Wir trafen uns vor einem Pflegeheim in Berlin-Tegel. Die Schwestern erwarteten
uns schon - die Patienten auch. Viele hatten niemanden mehr, der sich
um sie kümmerte, außer uns war kein einziger Besucher im Haus.
Die Schwestern öffneten die Türen zu den Krankenzimmern, und
wir sangen draußen auf den Fluren, gingen Zimmer für Zimmer
weiter, damit jeder uns hören konnte, nahmen anschließend unsere
Geschenktüten und gingen zu zweit oder zu dritt in die Zimmer hinein.
Setzten uns zu den Patienten aufs Bett, sangen auf Wunsch das eine oder
andere Lied, aber die meisten wollten uns einfach nur berühren und
berührt werden. Wir hielten alte, welke Hände, umarmten Frauen
und Männer, die unsere Großeltern und Urgroßeltern hätten
sein können, streichelten tränenfeuchte Gesichter, verteilten
Küßchen, lächelten ermutigend, gaben uns lustig und heiter,
auch wenn uns nicht danach war, und hörten uns allerlei traurige
Geschichten an.
Meist war es schon 19/20 Uhr, wenn wir das Heim verließen. Wir waren
normalerweise ein geschwätziges Volk, aber an diesem Abend waren
die meisten von uns ziemlich still.
Den letzten Teil des Weges nach Borsigwalde ging ich allein. Es war längst
dunkel. In allen Fenstern brannten Kerzen - das machte man damals so in
West-Berlin - und ich sah eine Menge Weihnachtsbäume und Leute und
Kinder, die feierten. Zu Hause kriegte ich meinen bunten Teller und ein
Buch und aß den obligatorischen
Kartoffelsalat mit Würstchen.
Es war Weihnachten.
Möge
das neue Jahr euch gut behandeln!
Marianne Sydow am 24.12.2009
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