Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 19:
Im Saniscan / 1
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Saniscans waren aus Jonnas Sicht die besten Ärzte, die man sich wünschen konnte. Sie kannten keine Vorurteile, nahmen jeden Patienten ernst, gingen auf all seine Äußerungen ein, wurden niemals ungeduldig, hatten keine Wissenslücken und vergaßen und übersahen nichts. Was ein Saniscan wußte, wußten alle anderen auch. Sie kannten jeden einzelnen Bürger von dessen frühestem Embryonalstadium an, registrierten jede Veränderung in seinen Werten und in seinem Verhalten und konnten die meisten Krankheiten schon in einem so frühen Stadium erkennen und bekämpfen, daß die Patienten sich ihrer Leiden oft gar nicht bewußt wurden. Selbst im schlimmsten aller Fälle war ein Saniscan die weitaus sicherste Adresse für einen selbstbestimmten, sanften, würdevollen Tod ohne Angst und ohne Schmerz.

Seltsam, wie nahe ihr dieser Gedanke plötzlich war.

"Ihr Observer hat mich bereits informiert", sagte die Maschine zu Jonna. "Ich stehe mit der entsprechenden Sektion des medizinischen Archivs in Verbindung. Sie sollten jetzt Ihre Kleidung ablegen, zu mir kommen und mir gestatten, etwas für Sie zu tun."

Jonna ließ sich in dem breiten, bequemen Sessel nieder, als der der Saniscan sich präsentierte. Der Sessel paßte sich ihrem Körper an, sondierte ihre Muskulatur und neigte und veränderte sich, bis sie sich völlig entspannte. Das Schwindelgefühl und die Übelkeit vergingen, die Schmerzen lösten sich auf.

"Alle Personen, mit denen Sie seit Ihrer Rückkehr in Kontakt gekommen sind, stehen unter Beobachtung", fuhr der Saniscan währenddessen fort. "Wir werden sie beim ersten Anzeichen von Gefahr isolieren."

"Wäre es nicht besser, sie jetzt gleich unter Quarantäne zu stellen?" fragte Jonna beklommen.

"Wir wollen nichts übereilen", wiegelte der Sani ab. "Es ist besser, vorerst jedes Aufsehen zu vermeiden. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß überhaupt eine Gefahr besteht. Wir haben Ihre Symptome mit unseren Aufzeichnungen verglichen und nichts gefunden, das uns Sorgen bereiten müßte. Alle Proben und Kulturen sind nach wie vor ohne Befund, und Ihre Werte waren die ganze Zeit hindurch stabil. Wenn Sie sich bei diesen letzten Fahrten infiziert hätten, müßte es sich um einen Erreger mit außerordentlich kurzer Inkubationszeit handeln. Alle dafür in Frage kommenden Krankheiten haben einen sehr stürmischen Verlauf. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu bemerken."

Jonna kämpfte mit ihrem schlechten Gewissen.

"Ich war ein paarmal auf der Terrasse vor meiner Wohnung", sagte sie schließlich. "Es kann beliebig viel Zeit vergangen sein, seit ich mich infiziert habe."

"Ihre Ausflüge sind uns bekannt", erklärte der Saniscan. "Sie wissen doch hoffentlich, daß Ihre Wohnung voll ist von medizinischen Sensoren?"

Natürlich wußte sie es. Sie hatte sich bisher nur nicht klargemacht, daß man sie auch noch auf diese Weise überwachte.

"Ihre Wohnung hat nie für längere Zeit leergestanden", fuhr der Saniscan fort. "Es haben ausschließlich Außendienstler darin gelebt. Sie alle haben die Terrasse benutzt, und keiner von ihnen hat sich dort jemals infiziert. Es gibt an diesem Ort nichts, das Ihnen gefährlich werden könnte. Anderenfalls hätten wir Sie längst darauf aufmerksam gemacht."

"Gut", sagte Jonna aufatmend. "Und wie geht es weiter?"

"Um ganz sicher zu gehen, muß ich ein paar Tests durchführen. Das wird einige Stunden dauern. Sie befinden sich jetzt in einem isolierten Raum - den sollten Sie vor Abschluß der Untersuchung nicht verlassen. - - - Ich registriere bei Ihnen Zeichen großer Erschöpfung. Sie sollten die Zeit nutzen, um sich auszuruhen. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel verabreichen."

"Tu das", sagte Jonna. "Und gib mir ein bißchen Musik - es ist zu still hier!"

Anfangs schien es, als würde auch die Musik nicht helfen: Jonna wurde die Erinnerung an die gründlich verpatzte Rückgabezeremonie einfach nicht los.

War es meine Schuld? fragte sie sich.

Natürlich war es ihre Schuld. Sie wußte das. Es war schon immer ihre Schuld gewesen - alles und jedes. Für ihre Familie war sie seit jeher das wandelnde Unheil vom Dienst.

Nur nicht für Billy.

Sie erinnerte sich daran, wie sie ihren Bruder zum erstenmal gesehen hatte: ein dürres Bündel Mensch mit viel zu langem Hals, haarlos und bleich, mit geschwollenen, bläulichen Augenlidern - ein schrecklicher Anblick.

"Er ist eine Mißgeburt!" hatte sie mit der rücksichtslosen Offenheit einer Zehnjährigen zu Cheroux gesagt.

Der Observer hatte lächelnd den Kopf geschüttelt:

"Er ist völlig normal. In ein paar Wochen wird er rund und niedlich sein."

Und Cheroux hatte recht behalten: Billy hatte sich zu einem ausgesprochen hübschen Kind zurechtgewachsen, zu einem freundlichen, intelligenten Jungen, von allen geliebt, von allen gehätschelt. Er hatte etwas ganz Besonderes an sich gehabt. Auch als er älter wurde: er brauchte nur ins Zimmer zu kommen, und alle wandten sich ihm zu. Jeder hatte ihn gemocht. Auch Jonna.

Und dann hatte dieses reizende Kind im zarten Alter von acht Jahren beschlossen, dem Vorbild seiner großen Schwester zu folgen und dem Städtischen Dienst beizutreten.

Ende der Idylle.

Alicia Harper und Sam B. Herman waren nicht gewillt gewesen, noch eines ihrer Kinder an die Stadt zu verlieren. Bei Jonna konnten sie nichts mehr ändern. Aber bei Billy sollte es anders werden. Mit ihrem erbitterten Widerstand hatten sie jedoch nichts weiter erreicht, als daß er sich von ihnen trennte.

Und nun war er tot, und obwohl Jonna genau wußte, daß es unsinnig war, fühlte sie sich schuldig. Dieses Gefühl spülte eine ganze Kette von unangenehmen Erinnerungen herauf: an Situationen, in denen sie es versäumt hatte, ihrem Bruder zur Seite zu stehen, an Antworten und Erklärungen, die sie ihm schuldig geblieben war, an vergessene Geburtstage, gebrochene Versprechen, gedankenlose Bemerkungen, unnötige Taktlosigkeiten.

So viele Versäumnisse.

So viel Schuld.

Sie fühlte sich zum Heulen elend, aber auch jetzt wollten die Tränen nicht kommen. Sie fragte sich, ob sie überhaupt imstande war, wirklich und aufrichtig um Billy zu trauern. Sie bemühte sich, ganz ehrlich mit sich zu sein, und kam zu ihrem Entsetzen zu dem Schluß, daß das, was sie empfand, in erster Linie Selbstmitleid war.

Es ist wie bei David. Du verdrängst es. Du bist nicht imstande, seinen Tod zu akzeptieren. Irgendwann kommt der Moment der Erkenntnis, und dann klappst du zusammen, aber gründlich!

Der Saniscan wechselte die Musik, schaltete das Licht herunter und leitete schlaffördernde Pheromone in die Kammer. Das half: Jonna schlief endlich ein - tief und fest.

Sie träumte von Billy. Es war ein freundlicher Traum, heilsam wie alles, was ihr je in einem Saniscan widerfahren war.


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