Saniscans waren aus Jonnas Sicht die besten Ärzte, die man sich wünschen
konnte. Sie kannten keine Vorurteile, nahmen jeden Patienten ernst, gingen
auf all seine Äußerungen ein, wurden niemals ungeduldig, hatten
keine Wissenslücken und vergaßen und übersahen nichts.
Was ein Saniscan wußte, wußten
alle anderen auch. Sie kannten jeden einzelnen Bürger von dessen
frühestem Embryonalstadium an, registrierten jede Veränderung
in seinen Werten und in seinem Verhalten und konnten die meisten Krankheiten
schon in einem so frühen Stadium erkennen und bekämpfen, daß
die Patienten sich ihrer Leiden oft gar nicht bewußt wurden. Selbst
im schlimmsten aller Fälle war ein Saniscan die weitaus sicherste
Adresse für einen selbstbestimmten, sanften, würdevollen Tod
ohne Angst und ohne Schmerz.
Seltsam, wie nahe ihr dieser Gedanke plötzlich war.
"Ihr Observer hat mich bereits informiert", sagte die Maschine
zu Jonna. "Ich stehe mit der entsprechenden Sektion des medizinischen
Archivs in Verbindung. Sie sollten jetzt Ihre Kleidung ablegen, zu mir
kommen und mir gestatten, etwas für Sie zu tun."
Jonna ließ sich in dem breiten, bequemen Sessel nieder, als der
der Saniscan sich präsentierte. Der Sessel paßte sich ihrem
Körper an, sondierte ihre Muskulatur und neigte und veränderte
sich, bis sie sich völlig entspannte. Das Schwindelgefühl und
die Übelkeit vergingen, die Schmerzen lösten sich auf.
"Alle Personen, mit denen Sie seit Ihrer Rückkehr in Kontakt
gekommen sind, stehen unter Beobachtung", fuhr der Saniscan währenddessen
fort. "Wir werden sie beim ersten Anzeichen von Gefahr isolieren."
"Wäre es nicht besser, sie jetzt gleich unter Quarantäne
zu stellen?" fragte Jonna beklommen.
"Wir wollen nichts übereilen", wiegelte der Sani ab. "Es
ist besser, vorerst jedes Aufsehen zu vermeiden. Es ist sehr unwahrscheinlich,
daß überhaupt eine Gefahr besteht. Wir haben Ihre Symptome
mit unseren Aufzeichnungen verglichen und nichts gefunden, das uns Sorgen
bereiten müßte. Alle Proben und Kulturen sind nach wie vor
ohne Befund, und Ihre Werte waren die ganze Zeit hindurch stabil. Wenn
Sie sich bei diesen letzten Fahrten infiziert hätten, müßte
es sich um einen Erreger mit außerordentlich kurzer Inkubationszeit
handeln. Alle dafür in Frage kommenden Krankheiten haben einen sehr
stürmischen Verlauf. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu bemerken."
Jonna kämpfte mit ihrem schlechten Gewissen.
"Ich war ein paarmal auf der Terrasse vor meiner Wohnung", sagte
sie schließlich. "Es kann beliebig viel Zeit vergangen sein,
seit ich mich infiziert habe."
"Ihre Ausflüge sind uns bekannt", erklärte der Saniscan.
"Sie wissen doch hoffentlich, daß Ihre Wohnung voll ist von
medizinischen Sensoren?"
Natürlich wußte sie es. Sie hatte sich bisher nur nicht klargemacht,
daß man sie auch noch auf diese Weise
überwachte.
"Ihre Wohnung hat nie für längere Zeit leergestanden",
fuhr der Saniscan fort. "Es haben ausschließlich Außendienstler
darin gelebt. Sie alle haben die Terrasse benutzt, und keiner von ihnen
hat sich dort jemals infiziert. Es gibt an diesem Ort nichts, das Ihnen
gefährlich werden könnte. Anderenfalls hätten wir Sie längst
darauf aufmerksam gemacht."
"Gut", sagte Jonna aufatmend. "Und wie geht es weiter?"
"Um ganz sicher zu gehen, muß ich ein paar Tests durchführen.
Das wird einige Stunden dauern. Sie befinden sich jetzt in einem isolierten
Raum - den sollten Sie vor Abschluß der Untersuchung nicht verlassen.
- - - Ich registriere bei Ihnen Zeichen großer Erschöpfung.
Sie sollten die Zeit nutzen, um sich auszuruhen. Wenn Sie einverstanden
sind, werde ich Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel verabreichen."
"Tu das", sagte Jonna. "Und gib mir ein bißchen Musik
- es ist zu still hier!"
Anfangs schien es, als würde auch die Musik nicht helfen: Jonna wurde
die Erinnerung an die gründlich verpatzte Rückgabezeremonie
einfach nicht los.
War es meine Schuld? fragte sie sich.
Natürlich war es ihre Schuld. Sie wußte das. Es war schon immer
ihre Schuld gewesen - alles und jedes. Für ihre Familie war sie seit
jeher das wandelnde Unheil vom Dienst.
Nur nicht für Billy.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihren Bruder zum erstenmal gesehen hatte:
ein dürres Bündel Mensch mit viel zu langem Hals, haarlos und
bleich, mit geschwollenen, bläulichen Augenlidern - ein schrecklicher
Anblick.
"Er ist eine Mißgeburt!" hatte sie mit der rücksichtslosen
Offenheit einer Zehnjährigen zu Cheroux gesagt.
Der Observer hatte lächelnd den Kopf geschüttelt:
"Er ist völlig normal. In ein paar Wochen wird er rund und niedlich
sein."
Und Cheroux hatte recht behalten: Billy hatte sich zu einem ausgesprochen
hübschen Kind zurechtgewachsen, zu einem freundlichen, intelligenten
Jungen, von allen geliebt, von allen gehätschelt. Er hatte etwas
ganz Besonderes an sich gehabt. Auch als er älter wurde: er brauchte
nur ins Zimmer zu kommen, und alle wandten sich ihm zu. Jeder hatte ihn
gemocht. Auch Jonna.
Und dann hatte dieses reizende Kind im zarten Alter von acht Jahren beschlossen,
dem Vorbild seiner großen Schwester zu folgen und dem Städtischen
Dienst beizutreten.
Ende der Idylle.
Alicia Harper und Sam B. Herman waren nicht gewillt gewesen, noch eines
ihrer Kinder an die Stadt zu verlieren. Bei Jonna konnten sie nichts mehr
ändern. Aber bei Billy sollte es anders werden. Mit ihrem erbitterten
Widerstand hatten sie jedoch nichts weiter erreicht, als daß er
sich von ihnen trennte.
Und nun war er tot, und obwohl Jonna genau wußte, daß es unsinnig
war, fühlte sie sich schuldig. Dieses Gefühl spülte eine
ganze Kette von unangenehmen Erinnerungen herauf: an Situationen, in denen
sie es versäumt hatte, ihrem Bruder zur Seite zu stehen, an Antworten
und Erklärungen, die sie ihm schuldig geblieben war, an vergessene
Geburtstage, gebrochene Versprechen, gedankenlose Bemerkungen, unnötige
Taktlosigkeiten.
So viele Versäumnisse.
So viel Schuld.
Sie
fühlte sich zum Heulen elend, aber auch jetzt wollten die Tränen
nicht kommen. Sie fragte sich, ob sie überhaupt imstande war, wirklich
und aufrichtig um Billy zu trauern. Sie bemühte sich, ganz ehrlich
mit sich zu sein, und kam zu ihrem Entsetzen zu dem Schluß, daß
das, was sie empfand, in erster Linie Selbstmitleid war.
Es ist wie bei David. Du verdrängst es. Du
bist nicht imstande, seinen Tod zu akzeptieren. Irgendwann kommt der Moment
der Erkenntnis, und dann klappst du zusammen, aber gründlich!
Der Saniscan wechselte die Musik, schaltete das Licht herunter und leitete
schlaffördernde Pheromone in die Kammer. Das half: Jonna schlief
endlich ein - tief und fest.
Sie träumte von Billy. Es war ein freundlicher Traum, heilsam wie
alles, was ihr je in einem Saniscan widerfahren war.
<- eins
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