Als die Kapsel in Shangrilah-West zum Stehen kam, meldete sich Cheroux.
"Tralman ist verletzt", berichtete er. "Sikkim hat ihn
mit einem Messer niedergestochen. Tralman ist in einem miserablen Zustand,
aber er will unbedingt mit Sikkim sprechen. Er besteht darauf, daß
du nichts unternimmst, bis er zur Stelle ist."
"Dann ist er genauso durchgeknallt wie sein Klient", sagte Jonna.
"Sikkim will offenbar eine Schleuse austricksen und beide Schotte
gleichzeitig öffnen. Das System ist in Alarmstimmung. Wir haben keine
Zeit mehr!"
"Ich
kläre das mit dem System", schrie Tralman dazwischen. "Ich
werde in fünf Minuten bei Ihnen sein. Lassen Sie sich etwas einfallen
und halten Sie Sikkim solange hin!"
Jonna erwartete einen Kommentar von Cheroux, aber ihr Observer brach die
Verbindung schweigend ab.
Jonna steckte den Scanner in die Tasche und stieg die Rampe hinauf - in
normalem Tempo, obwohl ihr eher nach Rennen zumute war. Aber in Shangrilah-West
herrschte Hochbetrieb: Roller-Tube-Teams, Skater, Pyram-Riders, Ramp-Slider,
eine Hockey-Mannschaft, alle mit reichlich Gepäck, von einem Troß
von Trainern, Helfern und Fans umgeben - Jonna entsann sich düster,
daß für die nächsten Tage eine Reihe von Ausscheidungskämpfen
für die Stadt-Olympiade auf dem Programm standen.
Durch eine Tür mit einer gelben Sonne auf hellblauem Grund gelangte
sie in den Sicherheitsbereich des Schleusentrakts. Sie öffnete das
innere Schott: über der ersten Schleuse brannte das rote Licht -
das Außenschott war immer noch offen. Wenn Sikkim es schaffte, auch
die innere Tür zu öffnen, würde das System sich nicht länger
davon abhalten lassen, lauthals Alarm zu schlagen.
"Wie lange wird es dauern, bis die Leute da draußen in ihren
Zügen sitzen?" fragte Jonna leise.
"Fast fünfzehn Minuten."
"Gib bitte dis dahin keinen Alarm! Wenn die alle anfangen, zu rennen,
wird es Verletzte geben!"
"Ich werde warten", versprach das System.
Jonna lauschte an der Tür. Sie konnte hören, wie Sikkim auf
der anderen Seite arbeitete, aber was er tat, ergab keinen Sinn: er zerrte,
zog und rüttelte am Öffnungsbügel herum, als hätte
er alles vergessen, was er jemals über den Umgang mit Schleusentüren
gelernt hatte.
So schafft er es nie!
Unter den gegebenen Umständen war das eine durchaus beruhigende Feststellung
und dennoch ein Quell neuer Sorgen: Sikkims Verhalten war völlig
absurd.
Warum erhielt er sich so abwegig? Na schön, um seine Immunität
war es nicht mehr sonderlich gut bestellt, aber das hatte doch nichts
mit seinem Verstand zu tun! Jonna kannte ihn als einen klugen, mutigen
und integren Mann. Wie paßte das alles zusammen?
Sie ging ein paar Türen weiter, öffnete eine der Schleusen und
trat in die Außenwelt hinaus.
Vor ihr lag eine riesige, von Gras und Moos überwucherte Plattform,
die sich wie ein langgezogenes Riff rund hundert Meter weit in die Außenwelt
erstreckte: eine ehemalige Ladezone, Überbleibsel aus der Zeit, als
man Shangrilah erbaut hatte.
Jonna schlich sich an die offene Schleusentür heran, ging in die
Hocke und spähte um die Ecke.
Sikkim war nur etwa vier Meter von ihr entfernt. Er zerrte immer noch
an dem inneren Schott herum. Er sah sich nicht um, schenkte seiner Umgebung
keinerlei Aufmerksamkeit. Da er seinen Scanner nicht benutzte, hatte er
wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt, daß seine Verbindung zum
System unterbrochen war.
Die von Tralman erbetene Frist war abgelaufen. Jonna betrat die Schleuse.
Sikkim wandte ihr den Rücken zu. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen.
Sie stellte Sikkims Tasche beiseite und schloß das Außenschott.
Im nächsten Augenblick brach die Hölle los.
"SIKKIM! HÖR SOFORT MIT DEM UNSINN
AUF UND GEH VON DER TÜR WEG!"
Das war Tralmans Stimme, vom Lautsprecher in der Schleusenkammer zu einem
schier unerträglichen Gebrüll verstärkt.
"Sind Sie irre?" schrie Jonna wütend. "Schalten Sie
sofort den verdammten Krach ab!"
Sikkim fuhr herum. Für einen Augenblick stand er regungslos da, starrte
Jonna an, die Arme erhoben, wie ein wütender Bär. Es war offensichtlich,
daß er sie nicht erkannte: er blickte durch sie hindurch, als wäre
sie aus Glas.
"He, Sikkim!" sagte sie, verzweifelt bemüht, zu retten,
was noch zu retten war. "Ich bin es, Jonna! Das hier ist ein übler
Ort. Komm schon, alter Freund, laß uns von hier verschwinden und
essen gehen, nur wir beide, du und ich, wie in alten Zeiten!"
Er gab keinen Laut von sich. Er stürzte sich auf sie mit Zähnen
und Krallen, in blinder Raserei, wie ein wildes Tier.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zur Wehr zu setzen - gegen
einen Gegner, der eigentlich ihr Freund war.
Sie hielt ihn sich vom Halse, nicht mehr und nicht weniger, wich ihm aus,
blockte seine Schläge ab, aber sie schlug nicht zurück. Sie
fügte ihm keine noch so geringe Verletzung zu.
Die innere Schleusentür öffnete sich zischend. Ein Außendienstler
stürzte herein, warf sich auf Sikkim, riß ihn zu Boden und
hielt ihn fest.
Jonna lehnte sich schweratmend gegen die Wand, unendlich dankbar dafür,
daß dieser beängstigende Kampf beendet war.
Sikkim sah schrecklich aus. Seine Haut war blaß wie die eines Toten.
Die Haare klebten ihm am Schädel. Dicke Schweißtropfen liefen
ihm über das Gesicht. Seine Stirn war blaurot unterlaufen, seine
Hände glichen verkrümmten Krallen. Er starrte in Jonnas Richtung,
schien sie aber auch jetzt nicht wahrzunehmen.
"Was ist mit dir passiert?" fragte Jonna entsetzt.
Eine erste Reaktion, aber sie fiel sehr seltsam aus: Sikkim zuckte zusammen,
wand sich verzweifelt, warf sich hin und her.
"Nicht schlagen!" wimmerte er.
Damit brachte er Jonna endgültig aus dem Konzept. Einigermaßen
fassungslos wiederholte sie ihre Frage
"Was ist mit dir passiert?"
"Bring mich nicht um!"
"Niemand will dich umbringen! Erkennst du mich denn nicht? Ich bin
es, Jonna Harper!"
Sikkims Augen blickten immer noch ins Leere, aber dann, ganz plötzlich,
änderte sich das.
"Jonna!" Sikkim starrte sie an. "Ja, sicher, du müßtest
es können!"
Jonna dachte, daß damit das Schlimmste überstanden war und
daß es nun möglich sein würde, mit ihm zu sprechen. Sie
ging neben ihm in die Hocke, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter...
Aus dem Augenwinkel sah sie Tralman an der Tür auftauchen. Er kam
näher, beugte sich herab und drückte einen Injektionsstift an
Sikkims Hals.
Es zischte.
Sikkims Augen wurden groß, seine Pupillen weiteten sich. Er packte
Jonna am Arm, so fest, daß er sie mit sich zog, als er in sich zusammensackte.
"Du mußt es verhindern!" flüsterte er - sie spürte
seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht, in seiner Lunge rasselte es.
"Sie werden die ganze Stadt zerstören. Du mußt sie aufhalten!
Du mußt dorthin gehen und ihnen..."
Und damit verstummte er, mitten im Wort.
Jonna richtete sich auf und sah Tralman an.
Der Observer lehnte an der Wand der Schleusenkammer und holte zitternd
Luft - es klang wie ein Schluchzen.
"Wie können sie es wagen, ihn zu betäuben?" fragte
die Protektorin mit mühsam unterdrückter Wut.
"Er braucht Ruhe!" erwiderte Tralman gereizt.
"Ein paar Sekunden hätte das schon noch warten können!"
sagte Jonna scharf. "Er wollte mir etwas mitteilen! Warum haben Sie
ihn nicht ausreden lassen?"
Tralman sah nicht viel besser aus als sein Klient. Er war grau im Gesicht,
und die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Unterhalb der linken Schulter
sickerte es naß und dunkelrot durch das ohnehin schon blutgetränkte
Hemd: Die Stichwunde, die Sikkim seinem Observer beigebracht hatte, blutete
immer noch.
"Er hätte Ihnen nichts sagen können", behauptete er
schroff. "Sehen Sie denn nicht, was mit ihm los ist?"
"Ich sehe nur, daß er jetzt bewußtlos ist. Und das ist
Ihr Werk!"
"Er ist nicht bei Verstand!" erwiderte Tralman abweisend. "Er
kann Ihnen keine Auskünfte erteilen!"
"Falsch! Er wollte mit mir reden!"
"Ja, sicher, über irgendein Hirngespinst! Lassen Sie es gut
sein, Harper. Nichts von dem, was Sikkim Ihnen in diesem Zustand sagen
könnte, wäre für Sie von Wert. Er gehört in einen
Saniscan!"
Wie auf ein Stichwort kam eine der Maschinen in die Schleuse gerollt,
fuhr zwei Arme aus und holte den betäubten Sikkim zu sich an Bord.
"Geben Sie ihm die Anweisung, daß er Sikkims Blut auf Drogen
untersuchen soll!" forderte Jonna.
Tralman musterte sie mit einem Blick, der der Protektorin das Blut ins
Gesicht trieb.
"Sie haben zu viel Phantasie, meine Liebe!" sagte er verächtlich
mit der ihm eigenen Arroganz. "Und jetzt entschuldigen Sie mich -
ich muß mich um meinen Klienten kümmern!"
Ein weiterer Saniscan kurvte heran. Tralman stieg ein. Die beiden Maschinen
rollten mit ihren Patienten davon.
Jonna sah ihnen nach - fassungslos angesichts dessen, was sie gerade erlebt
hatte. Ihr Instinkt sagte ihr, daß Tralman selbstverständlich
nicht nach Drogen in Sikkims Blut suchen
lassen würde.
Sie betrachtete ihre Hände, ihre Kleidung, suchte nach verwertbaren
Blutflecken, die von Sikkim stammten, fand aber natürlich nichts.
Ich war zu rücksichtsvoll! dachte
sie bitter. Ich hätte ihm eins auf die Nase geben sollen!
Der Außendienstler, der Sikkim überwältigt hatte, stand
immer noch in der Schleuse. Er war sehr jung, höchstens achtzehn.
Er wirkte betreten und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte.
"Gehören Sie zu Tralman?" fragte Jonna.
Er nickte.
"Ich bin einer seiner Anwärter", erklärte er. "Er
hatte mich zu sich bestellt. Ich kam gerade in die Praxis, als man ihn
unter der Abschirmung hervorholte."
Jonna sagte sich, daß es keinen Sinn hatte, ihre Wut auf Tralman
an diesem Jungen auszulassen.
"Wie heißen Sie?" fragte sie.
"Ken."
"Wollen Sie mir helfen, Ken?"
Er nickte.
"In dem Fach da drüben finden Sie ein paar Lappen und eine Flasche
mit einem Reinigungsmittel", sagte Jonna. "Wischen Sie das Blut
dort am Türrahmen weg" (Tralmans Blut, leider nicht das von
Sikkim, sinnlos, es analysieren zu lassen) "und reinigen Sie die
Dichtungen. Ich werde inzwischen die Sensoren wieder auf Vordermann bringen."
Gemeinsam machten sie sich daran, die Spuren des Zwischenfalls zu beseitigen.
Sie brauchten dazu ungefähr eine halbe Stunde. Dann verließen
sie die Schleuse, und Ken ging seiner Wege.
Als Jonna allein war, erkundigte sie sich nach Sikkims Befinden. Die Auskunft,
die das System ihr erteilte, war kurz und sachlich:
"Der Protektor Sikkim ist tot."
Jonna war wie vor den Kopf geschlagen.
"Tot?" wiederholte sie. "Warum? Was ist passiert?"
"Er ist gestorben."
Punkt und aus: Das System war offenbar der Meinung, daß damit alles
Wesentliche gesagt war.
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