Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 9:
Perle Nummer 1 / 2
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Das Fenster wurde schwarz. Dann tauchten ein paar Lichtpunkte auf, begleitet von Tönen und Geräuschen, und ordneten sich zu einem Bild, einer Landschaft:

Riesige Tannen, dicht und grün, deren Zweige sich im leichten Wind bewegten. Vor den Tannen ein kristallklarer Bach. In dem Bach moosbedeckte Steine, und in deren Schatten Fische: die Nasen gegen den Strom gerichtet, sanft die Flossen bewegend. Am Ufer wuchsen bunte Blumen und zierliche Gräser. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Die Luft war erfüllt von winzigen Insekten und kleinen, weißen Samenflocken, die in der Sonne leuchteten.

Und all das sah Jonna auf einen Blick, weil es eben eine Perle war. Es ordnete sich den verschiedenen Bildebenen zu, sobald sie es fokussierte.

So weit, so gut, dachte Jonna. Das ist sehr hübsch, aber vom Teppichrand werde ich deswegen bestimmt nicht springen!

Aber noch während sie das dachte, ordnete sich die akustische Komponente zu einer musikalischen Klangkulisse, und damit schien sich die gesamte Szenerie zu verändern.

Jonna hätte keine dieser Veränderungen exakt benennen können. Es war nichts, worauf man zeigen konnte:

"Da ist es - siehst du es?"

Man konnte es nicht sehen.

Auch nicht hören.

Nur fühlen.

Es war immer noch dasselbe Bild, ohne jeden Zweifel, Felsen für Felsen, Blatt für Blatt, Halm für Halm - ganz harmlos. Aber es schien, als würde sich dieses Bild, die gesamte Szenerie, durch die Musik erweitern, um eine ganz eigene, eine emotionale Dimension, und ehe Jonna es sich versah, war sie der Faszination der Perle erlegen - mit Haut und Haaren.

Sie ließ sich treiben, genoß die Bilder, die Geräusche, die Musik, und selbst ohne die Unterstützung des Cykons fühlte sie die Wärme des Sonnenlichts, die Kälte des Wassers, den kühlen Schatten unter den Tannen.

Aus dem Schatten heraus sah sie die kleinen fliegenden Wesen, die in der Sonne tanzten - es war, als sei die Luft selbst zum Leben erwacht. Sie betrachtete eines der winzigen Insekten aus der Nähe, ein ätherisch wirkendes Geschöpfchen, das in der Sonne leuchtete. Und hinter ihm sah sie plötzlich etwas anderes, ebenfalls leuchtend. Sie beugte sich vor...

... und sah unter sich eine schier endlos erscheinende Ebene aus runden Kieseln, flach wie eine Tischplatte, von einem Horizont bis zum anderen, unter einem silberfarbenen Himmel, übergossen von schattenlosem Licht.

Da wurde ihr klar, daß man sich Ogawas Perlen nicht einzeln, eine nach der anderen, zu Gemüte führen konnte: sie waren eine Einheit, alle miteinander verknüpft. Sobald man eine von ihnen betrat, hatte man auch Zugang zu allen anderen.

Es gab offenbar weder ein festgelegtes Programm, noch schien ein Zeitlimit zu existieren. Ogawas Perlen boten ein schier grenzenloses Erlebnis - unbegrenzt im wahrsten Sinne des Wortes.

Jonna stand in der silbrigen Helligkeit und fragte sich, warum man diese wunderbaren Gebilde überhaupt ins Perlendepot aufgenommen hatte. Perlen hatten etwas mit Kunst zu tun. Aber das hier waren nur einfache Naturdarstellungen.

Um in einer solchen Wüste zu stehen, brauche ich mich doch nicht in eine Perle zu begeben! Solche Bilder gibt es im Archiv...

Sie erschrak, tastete an sich herab, richtete sich auf, sah sich um: Da war kein Cykon um sie herum. Sie saß im Sessel vor dem Fenster. Sie sah das Zimmer, den Comco. Aber gleichzeitig stand sie auf der schattenlosen Ebene, und hinter der vertrauten Umgebung erhoben sich die verwitterten Reste uralter Vulkane.

Keine Videodrogen, ja? dachte sie spöttisch und lachte - lachte über das System. Das Zeug muß verdammt stark sein, daß es sogar außerhalb des Cykons eine solche Wirkung entfalten kann!

Und dann:

Es ist keine Droge. Jedenfalls keine von der gefährlichen Sorte. Ich kann frei denken, und ich kann meine Umgebung wahrnehmen. Nichts könnte mich daran hindern, aufzustehn und wegzugehn. Und ob das nun im künstlerischen Sinne eine Perle ist oder nicht - was soll's? Das hier ist
einfach wunderschön!

Und so wanderte sie weiter, durch Wüsten mit goldenen Dünen, durch Nebelwälder, triefend und tropfend, durch polare Eiswüsten. Sie sah leuchtende Lagunen, himmelhohe Berge, weite, grasbewachsene Ebenen.

Eines hatten all diese Orte miteinander gemeinsam:

Überall war Leben.

Genau das war es, was Ogawas Perlen vermittelten: Leben, überall auf der Erde. Es war eine idealisierte Darstellung, frei von häßlichen und gewaltsamen Aspekten, und so gesehen war es unrealistisch - unrealistisch wie ein Märchen. Und verführerisch.

Leuchtend.

Unwiderstehlich.

Es ist wie für mich gemacht. Ich bin das ideale Opfer.

Aber sie fühlte sich kein bißchen unwohl bei diesem Gedanken.

Irgendwann - sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war - gab der Comco ein Signal. Jonna ignorierte es. Bis plötzlich ein dunkles, bärtiges Gesicht auf dem Schirm erschien, mitten im regenbogenfarbig schimmernden Wasserschleier vor einer felsigen Küste:

Jean Cheroux.


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