Minutenlang blieb sie liegen. Sie war wie betäubt.
Ist es meine Schuld? fragte
sie sich betroffen. Ganz sicher ist es meine Schuld! Wahrscheinlich
war das Feld sowieso schon instabil. Die lange Zeit, kein einziger Besucher,
keine Energie-Transfers - es grenzt an ein Wunder, daß es überhaupt
noch existiert hat! Als ich dann die Urne geöffnet habe - das war
der Anfang vom Ende. Wenn ich es vorher gewußt hätte...
Aber was hätte sie dann tun können?
Das Feld von außen analysieren. Die Struktur
sichern. Beim nächsten Mal...
Aber selbst wenn sie noch einen zweiten Friedhof dieser Art finden sollte
(was mehr als unwahrscheinlich war), es würde nicht dasselbe sein:
Keine Selma Harper. Die persönlichen Daten dieser Frau waren unwiederbringlich
verloren.
Aber vielleicht gibt es doch noch eine Chance, überlegte
Jonna. Als das System die
Urne angelegt hat, muß es die Daten gesichtet haben. Es hat sie
sicher nach dem üblichen Schema im Archiv abgelegt. Wenn ich ein
bißchen mehr über diese Frau wüßte, könnte
ich ihre Datensammlung vielleicht rekonstruieren - zumindest dem Inhalt
nach!
Sie stieg aus dem Cykon.
Sie fühlte sich elend, schwach und schwindelig, wackelig in den Knien.
Sie ließ sich in einen Sessel fallen und schloß die Augen.
Alles drehte sich. Sie riß die Augen hastig wieder auf, denn so
konnte sie sich wenigstens optisch an einer stabilen Umgebung festhalten.
"Ihre Daten sind unversehrt", sagte der Comco, ohne daß
sie ihn gefragt hatte.
Erst in diesem Augenblick wurde ihr siedendheiß bewußt, daß
die Sache auch ganz anders hätte ausgehen können. Jonna war
zwar über den ihr vom System zur Verfügung gestellten Spezial-Scanner
gut abgesichert, aber wenn ein ganzes Urnenfeld davonfloß... Sie
konnte sich nicht daran erinnern, jemals von einem solchen Fall gehört
zu haben.
Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach. Sie richtete
sich vorsichtig auf.
"Ich brauche alle Daten und Querverweise zu dieser Selma Harper",
sagte sie und wunderte sich, wie rauh ihre Stimme klang. "Sie wurde
offenbar noch in der Außenwelt geboren, in der Gründerzeit
- du mußt sehr weit zurückgehen!"
Der Comco versuchte es. Er versuchte es wirklich und ernsthaft, denn anderenfalls
hätte er nicht so lange dazu gebraucht: auf dem Arbeitsschirm erschienen
ein Name, ein Geburtsdatum, ein Sterbedatum. Sonst nichts.
"Das kann nicht alles sein!" sagte Jonna heftig. "Selma
Harper hatte irgend etwas mit der Planung der Stadt zu tun! Es muß
doch Unterlagen über sie geben!"
"Mehr ist nicht da", erklärte der Comco. "Das sind
die einzigen Daten, die ich der Urne entnehmen konnte. In den Archiven
ist nicht einmal ihr Name verzeichnet."
"Vielleicht hat sie im Portal gelebt!"
"Dann müßte ihr Name trotzdem im Archiv sein."
"Das ist nicht gesagt. Das Portal war autark. Es hatte sein eigenes
System. Offiziell wurden zwar alle Daten in das System der Stadt übernommen,
aber es kann durchaus sein, daß dies oder jenes drüben geblieben
ist. Gib mir einen Zugang zu den Zentralen Speichern des Portals!"
Eine kurze Pause entstand. Dann meldete der Comco:
"Die gewünschte Verbindung läßt sich zur Zeit nicht
herstellen."
"Warum nicht?" fragte Jonna verblüfft.
"Es liegen technische Störungen vor."
"Im Portal?"
"Ja."
"Und warum werden diese Störungen nicht behoben?"
"Der zuständige Protektor ist überlastet, und das Portal
hat keine besondere Priorität."
Das Portal war offiziell ein Teil von Shangrilah, und der für die
vierte Pyramide zuständige Protektor hieß Sikkim. Ein guter
Mann - aber leider nur teilweise immun gegen die Einflüsse der Außenwelt.
Er hatte jahrzehntelang Antihistamine geschluckt, in ständig steigender
Dosierung. Jetzt zeigten sich die üblichen Spätfolgen. Zur Zeit
verbrachte er mehr Zeit in den Saniscans als bei Inspektionen in der Blauen
Zone.
"Wie lange geht das schon so?" fragte Jonna.
"Seit zwei Jahren."
Sie starrte fassungslos auf den Schirm.
"Gib mir Sikkim!" forderte sie.
"Er ist nicht erreichbar."
"Dann sage mir, wo er steckt!"
"In einem Saniscan."
"Ein kurzes Gespräch mit mir wird ihm schon nicht schaden. Also
gib ihn mir!"
"Er liegt im Heilschlaf, in der Traumzeit."
Das war eine Grenze, die auch Jonna nicht überschreiten konnte.
"Dann gib mir Tralman", sagte sie widerwillig.
Tralman war Sikkims Observer. Er verhielt sich Jonna gegenüber seit
jeher schroff und abweisend - sie wußte nicht, warum. Er gab ihr
ständig das Gefühl, an jedem Übel schuld zu sein, das über
ihn und seinen Klienten hereinbrach. So auch jetzt.
"Was wollen Sie?" fragte er grob, als er die Protektorin von
Camelot auf dem Schirm erblickte.
"Ich wollte eigentlich mit Sikkim sprechen", begann Jonna höflich.
"Der liegt im Saniscan!" fuhr Tralman ihr sofort in die Parade.
"Ich weiß. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?"
"Das geht Sie nichts an!"
Jonna unterdrückte ein Seufzen.
"Es geht um das Portal", sagte sie.
Tralman schien ein wenig zu schrumpfen - wie ein Ballon, dem unversehens
die Luft ausging.
Tja, mein Lieber, dachte Jonna
sarkastisch, das holt dich ganz plötzlich runter von deinem
hohen Podest, nicht wahr?
"Wir haben dort ein Problem", fuhr sie fort. "Es gibt zur
Zeit keine Möglichkeit, mit dem internen System des Portals zu kommunizieren."
"Das Portal geht Sie nichts an!" fauchte Tralman. "Es gehört
nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich!"
"Ich bin Protektorin", gab Jonna zu bedenken. "Mich geht
alles etwas an, was mit der Sicherheit der
Stadt zu tun hat. Stimmt es, daß Sikkim seit mindestens zwei Jahren
nicht mehr im Portal war?"
Tralman zögerte mit der Antwort.
"Hören Sie, Harper", sagte er schließlich. "Ich
weiß, daß das nicht den Vorschriften entspricht, aber seien
Sie doch mal ehrlich: was macht es schon aus? Das Portal ist tot - niemand
hat die Absicht, dort herumzulaufen. Daß da drinnen etwas nicht
in Ordnung ist - na, wenn schon! Niemand wird dadurch zu Schaden kommen.
Und Sikkim braucht nur eine kurze Phase der Regeneration, das ist alles.
In ein paar Tagen wird er wieder auf den Beinen sein. Dann werde ich ihn
ins Portal schicken, und er wird dort nach dem Rechten sehen. Werden Sie
sich solange gedulden?"
Das könnte dir so passen! dachte
Jonna. Das Portal! Da wollte ich schon lange mal hin. Du hast ja
keine Ahnung! Seit Jahren suche ich nach einem passenden Vorwand!
Abgesehen davon: es gab Regeln, nach denen sie sich zu richten hatte.
Solange sie nichts von diesem Mißstand gewußt hatte, hatte
sie natürlich auch nichts dagegen unternehmen können. Aber jetzt
wußte sie es. Nun mußte sie etwas
tun - es blieb ihr gar nichts anderes übrig.
Oh, ja, und ich werde in diesem Fall mit dem allergrößten Vergnügen
meine Pflicht erfüllen! dachte sie mit leiser Schadenfreude.
Immer schön legal bleiben, nicht wahr!
"Ich werde mit meinem Observer darüber sprechen", sagte
sie.
Tralman blickte leidend drein. Er kannte Cheroux, und er kannte die Vorschriften.
Er würde eine Menge Ärger bekommen. Aber dafür fühlte
Jonna sich beim besten Willen nicht zuständig, und so unterbrach
sie die Verbindung ohne ein weiteres Wort.
<- eins
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