Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 2:
Der alte Friedhof / 3
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Minutenlang blieb sie liegen. Sie war wie betäubt.

Ist es meine Schuld? fragte sie sich betroffen. Ganz sicher ist es meine Schuld! Wahrscheinlich war das Feld sowieso schon instabil. Die lange Zeit, kein einziger Besucher, keine Energie-Transfers - es grenzt an ein Wunder, daß es überhaupt noch existiert hat! Als ich dann die Urne geöffnet habe - das war der Anfang vom Ende. Wenn ich es vorher gewußt hätte...

Aber was hätte sie dann tun können?

Das Feld von außen analysieren. Die Struktur sichern. Beim nächsten Mal...

Aber selbst wenn sie noch einen zweiten Friedhof dieser Art finden sollte (was mehr als unwahrscheinlich war), es würde nicht dasselbe sein: Keine Selma Harper. Die persönlichen Daten dieser Frau waren unwiederbringlich verloren.

Aber vielleicht gibt es doch noch eine Chance, überlegte Jonna. Als das System die Urne angelegt hat, muß es die Daten gesichtet haben. Es hat sie sicher nach dem üblichen Schema im Archiv abgelegt. Wenn ich ein bißchen mehr über diese Frau wüßte, könnte ich ihre Datensammlung vielleicht rekonstruieren - zumindest dem Inhalt nach!

Sie stieg aus dem Cykon.

Sie fühlte sich elend, schwach und schwindelig, wackelig in den Knien. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und schloß die Augen. Alles drehte sich. Sie riß die Augen hastig wieder auf, denn so konnte sie sich wenigstens optisch an einer stabilen Umgebung festhalten.

"Ihre Daten sind unversehrt", sagte der Comco, ohne daß sie ihn gefragt hatte.

Erst in diesem Augenblick wurde ihr siedendheiß bewußt, daß die Sache auch ganz anders hätte ausgehen können. Jonna war zwar über den ihr vom System zur Verfügung gestellten Spezial-Scanner gut abgesichert, aber wenn ein ganzes Urnenfeld davonfloß... Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals von einem solchen Fall gehört zu haben.

Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach. Sie richtete sich vorsichtig auf.

"Ich brauche alle Daten und Querverweise zu dieser Selma Harper", sagte sie und wunderte sich, wie rauh ihre Stimme klang. "Sie wurde offenbar noch in der Außenwelt geboren, in der Gründerzeit - du mußt sehr weit zurückgehen!"

Der Comco versuchte es. Er versuchte es wirklich und ernsthaft, denn anderenfalls hätte er nicht so lange dazu gebraucht: auf dem Arbeitsschirm erschienen ein Name, ein Geburtsdatum, ein Sterbedatum. Sonst nichts.

"Das kann nicht alles sein!" sagte Jonna heftig. "Selma Harper hatte irgend etwas mit der Planung der Stadt zu tun! Es muß doch Unterlagen über sie geben!"

"Mehr ist nicht da", erklärte der Comco. "Das sind die einzigen Daten, die ich der Urne entnehmen konnte. In den Archiven ist nicht einmal ihr Name verzeichnet."

"Vielleicht hat sie im Portal gelebt!"

"Dann müßte ihr Name trotzdem im Archiv sein."

"Das ist nicht gesagt. Das Portal war autark. Es hatte sein eigenes System. Offiziell wurden zwar alle Daten in das System der Stadt übernommen, aber es kann durchaus sein, daß dies oder jenes drüben geblieben ist. Gib mir einen Zugang zu den Zentralen Speichern des Portals!"

Eine kurze Pause entstand. Dann meldete der Comco:

"Die gewünschte Verbindung läßt sich zur Zeit nicht herstellen."

"Warum nicht?" fragte Jonna verblüfft.

"Es liegen technische Störungen vor."

"Im Portal?"

"Ja."

"Und warum werden diese Störungen nicht behoben?"

"Der zuständige Protektor ist überlastet, und das Portal hat keine besondere Priorität."

Das Portal war offiziell ein Teil von Shangrilah, und der für die vierte Pyramide zuständige Protektor hieß Sikkim. Ein guter Mann - aber leider nur teilweise immun gegen die Einflüsse der Außenwelt. Er hatte jahrzehntelang Antihistamine geschluckt, in ständig steigender Dosierung. Jetzt zeigten sich die üblichen Spätfolgen. Zur Zeit verbrachte er mehr Zeit in den Saniscans als bei Inspektionen in der Blauen Zone.

"Wie lange geht das schon so?" fragte Jonna.

"Seit zwei Jahren."

Sie starrte fassungslos auf den Schirm.

"Gib mir Sikkim!" forderte sie.

"Er ist nicht erreichbar."

"Dann sage mir, wo er steckt!"

"In einem Saniscan."

"Ein kurzes Gespräch mit mir wird ihm schon nicht schaden. Also gib ihn mir!"

"Er liegt im Heilschlaf, in der Traumzeit."

Das war eine Grenze, die auch Jonna nicht überschreiten konnte.

"Dann gib mir Tralman", sagte sie widerwillig.

Tralman war Sikkims Observer. Er verhielt sich Jonna gegenüber seit jeher schroff und abweisend - sie wußte nicht, warum. Er gab ihr ständig das Gefühl, an jedem Übel schuld zu sein, das über ihn und seinen Klienten hereinbrach. So auch jetzt.

"Was wollen Sie?" fragte er grob, als er die Protektorin von Camelot auf dem Schirm erblickte.

"Ich wollte eigentlich mit Sikkim sprechen", begann Jonna höflich.

"Der liegt im Saniscan!" fuhr Tralman ihr sofort in die Parade.

"Ich weiß. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?"

"Das geht Sie nichts an!"

Jonna unterdrückte ein Seufzen.

"Es geht um das Portal", sagte sie.

Tralman schien ein wenig zu schrumpfen - wie ein Ballon, dem unversehens die Luft ausging.

Tja, mein Lieber, dachte Jonna sarkastisch, das holt dich ganz plötzlich runter von deinem hohen Podest, nicht wahr?

"Wir haben dort ein Problem", fuhr sie fort. "Es gibt zur Zeit keine Möglichkeit, mit dem internen System des Portals zu kommunizieren."

"Das Portal geht Sie nichts an!" fauchte Tralman. "Es gehört nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich!"

"Ich bin Protektorin", gab Jonna zu bedenken. "Mich geht alles etwas an, was mit der Sicherheit der Stadt zu tun hat. Stimmt es, daß Sikkim seit mindestens zwei Jahren nicht mehr im Portal war?"

Tralman zögerte mit der Antwort.

"Hören Sie, Harper", sagte er schließlich. "Ich weiß, daß das nicht den Vorschriften entspricht, aber seien Sie doch mal ehrlich: was macht es schon aus? Das Portal ist tot - niemand hat die Absicht, dort herumzulaufen. Daß da drinnen etwas nicht in Ordnung ist - na, wenn schon! Niemand wird dadurch zu Schaden kommen. Und Sikkim braucht nur eine kurze Phase der Regeneration, das ist alles. In ein paar Tagen wird er wieder auf den Beinen sein. Dann werde ich ihn ins Portal schicken, und er wird dort nach dem Rechten sehen. Werden Sie sich solange gedulden?"

Das könnte dir so passen! dachte Jonna. Das Portal! Da wollte ich schon lange mal hin. Du hast ja keine Ahnung! Seit Jahren suche ich nach einem passenden Vorwand!

Abgesehen davon: es gab Regeln, nach denen sie sich zu richten hatte. Solange sie nichts von diesem Mißstand gewußt hatte, hatte sie natürlich auch nichts dagegen unternehmen können. Aber jetzt wußte sie es. Nun mußte sie etwas tun - es blieb ihr gar nichts anderes übrig.

Oh, ja, und ich werde in diesem Fall mit dem allergrößten Vergnügen meine Pflicht erfüllen!
dachte sie mit leiser Schadenfreude. Immer schön legal bleiben, nicht wahr!

"Ich werde mit meinem Observer darüber sprechen", sagte sie.

Tralman blickte leidend drein. Er kannte Cheroux, und er kannte die Vorschriften. Er würde eine Menge Ärger bekommen. Aber dafür fühlte Jonna sich beim besten Willen nicht zuständig, und so unterbrach sie die Verbindung ohne ein weiteres Wort.


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