Jonna machte die Augen zu und wünschte sich zurück zur Tür
Nummer sieben - der mit dem Kratzer.
Da haben wir den Salat. Verdammter Mist!
Sie schaltete das Licht im Korridor ein und widmete sich der Schleuse
mit dem roten Lämpchen.
Das Schott zum Vorraum war geschlossen. Die Dichtungen waren intakt. Auch
mit dem Schott zur eigentlichen Schleusenkammer war alles in Ordnung.
Aber als Jonna es einen Spaltbreit öffnete, stach ihr grelles Tageslicht
in die Augen. Es fühlte sich an, als bohre sich ihr ein glühendes
Messer durch die Pupillen geradewegs bis ins Gehirn.
Sie prallte zurück, schob das Schott hastig wieder zu, lehnte sich
mit dem Rücken an die Wand, atmete tief durch und wartete, bis ihre
Augen sich von der plötzlichen Lichtfülle ein wenig erholt hatten.
Dann machte sie sich daran, die Aufzeichnungen der Sensoren abzufragen.
Das Protokoll der letzten Woche enthielt keine Hinweise darauf, daß
jemand innerhalb dieser Zeitspanne die Schleuse betreten hatte. Auch im
Statusbericht für die vorangegangene Woche waren weder ein Besucher
noch die rote Lampe vermerkt. Der innere Teil der Schleuse und das Portal
an sich schienen den Schaden bisher nicht bemerkt zu haben.
Aber andererseits brannte draußen das Warnlicht - ein Widerspruch,
den Jonna sich nicht erklären konnte.
Über den Scanner nahm Jonna Verbindung zum System der Stadt auf -
hier im Portal eine überaus umständliche Prozedur.
Sie
erklärte die Lage und fügte hinzu:
"Ich weiß ja, daß die Kommunikation mit dem System des
Portals nicht ganz einfach ist, aber eine offene Schleuse sollte keinem
von euch entgangen sein. Also: was weißt du darüber?"
"Nichts", erwiderte das System lakonisch.
"Kannst du mir sagen, wann und von wem die Schleuse zuletzt benutzt
wurde?"
Die Antwort kam prompt:
"Vor etwas über zehn Jahren, von dem Protektor Ruotanni."
Jonna war nahe daran, aus der Haut zu fahren. Jetzt war sie nicht mehr
müde. Der Adrenalinschub angesichts der roten Lampe und des offenen
Schotts machte sie hellwach und reizbar.
"Die zehn Jahre vergessen wir mal" sagte sie. "Sikkims
letzte Inspektion muß vor etwas über zwei Jahren stattgefunden
haben. Eine offene Schleuse hätte er wohl kaum übersehen, und
wenn er es war, der sie geöffnet hat, hätte er sie mit Sicherheit
auch wieder geschlossen. Es muß also nach ihm jemand hiergewesen
sein. Irgend jemand hat innerhalb dieser zwei Jahre das Portal betreten."
Ihr wurde heiß vor Schreck bei dem Gedanken, daß die Schleuse
möglicherweise tatsächlich schon seit zwei Jahren offenstand.
Nicht auszudenken, was in dieser Zeit alles passiert sein konnte!
Dem System schienen
solche Überlegungen fremd zu sein. Mit stoischer Ruhe gab es seine
Antwort:
"Darüber ist mir nichts bekannt."
Werd jetzt bloß nicht nervös! Vielleicht
ist gar nichts passiert!
Sie öffnete das innere Schott ein zweites Mal, gerade weit genug,
daß sie die äußere Kammer überblicken konnte.
Die Kammer wirkte sauber. Sie stand sicher nicht schon seit zwei Jahren
offen.
"Versuchen wir es anders herum", schlug Jonna vor und schob
das Schott in die Halterungen zurück. "Vor dieser Schleuse brennt
eine rote Lampe. Warum wurde kein Alarm gegeben?"
"Mir liegt keine Meldung vor, die einen Alarm rechtfertigen würde."
"Aktiviere die optischen Sensoren und überzeuge dich selbst!"
Es entstand eine kurze Pause. Dann verkündete das System:
"Die optischen Sensoren in diesem Bereich sind gestört."
Jonna öffnete die Tür zum Korridor, ging hinaus und richtete
den Scanner auf das rote Licht:
"Siehst du es jetzt?"
Wieder eine dieser kurzen Pausen, dann die Antwort:
"Eine Übertragung optischer Signale aus diesem Sektor scheint
zur Zeit nicht möglich zu sein."
Jonna blickte betroffen auf den Scanner hinab.
"Na schön", sagte sie. "Tu mir den Gefallen und überprüfe
die Zugänge zu den Wartungsschleusen. Wer auch immer sich hier herumgetrieben
hat - irgendwo muß er ja wohl eine Spur hinterlassen haben!"
Und wenn ich Jeans Anweisung befolgt hätte,
wäre ich automatisch auf diese Spur gestoßen. Scheint, als
müßte ich mich bei ihm entschuldigen!
"Einige der Zugänge zu den Wartungsschleusen sind defekt",
meldete das System. "Die Sensoren funktionieren nicht mehr. Ohne
die Sensoren kann ich nichts über etwa vorhandene Spuren sagen."
Warum hat es mir das nicht längst gesagt? Läßt
mich hier herumstolpern und gibt mir keine Informationen! Was ist bloß
los mit dem Ding?
"Mit anderen Worten", sagte sie, "im Portal kann möglicherweise
schon seit fast zwei Jahren jeder ein und aus gehen, wie er will. Wenn
ich das früher gewußt hätte, wäre ich schon längst
mal hergekommen! Wie auch immer - die Schleuse hier unten ist offen. Könnten
wir es mit einem Ausreißer zu tun haben?"
Die Antwort ließ auf sich warten. Das war natürlich auf die
technischen Besonderheiten des Portals zurückzuführen. Ganz
sicher war es das. Aber es wirkte trotzdem seltsam, als würde das
System seine Worte abwägen - wie jemand, der im Begriff steht, eine
Lüge zu erzählen oder etwas zu verschweigen.
"Die Schleuse, vor der Sie stehen", sagte es schließlich,
"ist wahrscheinlich ebenfalls defekt. Die Daten, die Sie von den
Sensoren erhalten, könnten falsch sein."
Jonna kehrte ins Innere der Schleuse zurück und sah sich drinnen
gründlich um.
"Ich finde hier keine Hinweise auf eine Fehlfunktion!" verkündete
sie.
"Es gibt aber auch keine konkreten Beweise dafür, daß
es sich tatsächlich um einen Ausreißer handelt", erwiderte
das System - eine etwas voreilige Schlußfolgerung, wie Jonna fand,
noch dazu überraschend flink gegeben, ohne jede Verzögerung,
wie aus der Pistole geschossen. Und dann fuhr die Computerstimme fort:
"Sie
sollten kein unnötiges Risiko eingehen. Ich empfehle Ihnen, die Schleuse
zu versiegeln und unverzüglich ins Stadtgebiet zurückzukehren!"
Das war, gelinde gesagt, ein höchst seltsames Angebot. Normalerweise
folgte dem leisesten Verdacht, daß jemand die Stadt verlassen haben
könnte, der sofortige Auftrag für eine Rückholaktion: nichts
wie raus und die Überreste einsammeln. Das System war geradezu hysterisch
darauf bedacht, nichts - aber auch wirklich gar nichts - an die Außenwelt
zu verlieren.
Was aus der Stadt kommt, muß in die Stadt
zurück.
Das war nicht irgendein Gesetz: es
war das Gesetz. Wenn jemand da draußen
verlorenging, war das nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern
für das nüchtern rechnende System bedeutete es den Verlust bioenergetischen
Materials, das sich unter den gegebenen Umständen nicht ersetzen
ließ: alles, was ein Ausreißer im Laufe seines Lebens verbraucht
hatte samt dem dafür nötigen Aufwand an Energie und Material
- all das ging mit diesem einen Menschenleben verloren. Und es war eine
erschreckende Bilanz, die das System in solchen Fällen aufstellte.
Es
war ein beunruhigender Gedanke, daß das System plötzlich bereit
sein sollte, einen solchen Verlust widerspruchslos hinzunehmen.
Aber ansonsten war es eine durchaus verlockende Idee. Es war Sommer -
keine gute Zeit für eine Rückholaktion. Wenn das System keinen
Wert darauf legte... Andererseits konnte Jonna sich nur allzu deutlich
vorstellen, was Cheroux ihr erzählen würde, wenn sie dieser
seltsamen Sache nicht nachging.
Und dir selbst würde es auch keine Ruhe mehr
lassen - mach dir doch da nichts vor!
Sie sah sich im Vorraum um.
"Hier fehlt ein Schutzanzug", stellte sie fest. "Hast du
eine Ahnung, wo er abgeblieben ist?"
Offenbar hatte das System endlich eine stabile Verbindung gefunden, denn
auch die nächste Antwort kam ohne Verzögerung:
"Mir liegt keine Meldung über den Verbleib des Anzugs vor. Die
Ausstattung der Schleuse müßte komplett sein."
Jonna öffnete einen der Schränke.
"Hier fehlt auch so allerhand", stellte sie fest.
Das System wertete diese Bemerkung nicht als Frage und schwieg.
"Hast du in der letzten Zeit überhaupt irgendeine
Art von Meldung aus dieser Schleuse hier erhalten?"
"Das Portal", erläuterte das System, "hat alle routinemäßigen
Kontrollimpulse einwandfrei beantwortet und tut das auch jetzt noch. Ich
muß also nach wie vor davon ausgehen, daß alles in Ordnung
ist. Da das aber nicht mit Ihren Beobachtungen übereinstimmt, dürfte
ein Defekt vorliegen."
"Sehr scharfsinnig beobachtet", bemerkte Jonna sarkastisch.
"Tu mir den Gefallen und sieh nach, ob in den letzten zehn Tagen
jemand in der Stadt abhanden gekommen ist."
"Das hätte ich bemerkt!" behauptete das System.
"Das möchte ich jetzt lieber nicht ausdiskutieren!" erwiderte
Jonna gereizt. "Ich werde mich inzwischen draußen umsehen."
In der Schleusenkammer lagen weder Staub noch Sand. Ein paar winzige Insekten
saßen an den Wänden. In der rechten oberen Ecke hing eine kleine
Spinne in einem sehr neu und sehr sauber aussehenden Netz. Jonna schloß
aus diesen Indizien, daß das Schott mit Sicherheit nicht schon seit
einer ganzen Woche offen war. Seit zwei oder drei Tagen - länger
nicht.
Die Schleuse führte auf den Wartungssteg hinaus, der das Portal umgab.
Jonna trat in den Sonnenschein hinaus, wartete mit gesenktem Kopf, bis
der bohrende Schmerz über den Augenbrauen nachließ, ging dann
zum Rand des Steges und blickte hinab.
Vor ihr lag eine weite, grasbewachsene Fläche. Das Gras war etwa
kniehoch. Es wogte im leichten Wind und schimmerte im hellen Sonnenlicht
wie Seide - pastellene Goldtöne in einem Meer von Silbergrün.
Von einem Ausreißer war weit und breit nichts zu sehen. Es gab keine
Fußstapfen im Gras. Nirgends war auch nur die Andeutung einer Fährte
zu erkennen. Es waren weder Fliegen noch Wespen in der Luft.
Jonna ging langsam auf dem Steg entlang. Sie musterte die trockenen Moospolster,
die spärlichen Gräser, die freien Flächen zwischen den
Pflanzen: Nichts. Schließlich erreichte sie die Hauptschleuse, und
dort, auf der breiten, flachen Rampe, fand sie ein umgeworfenes Moospolster
und daneben, im vom Wind angehäuften Sand, einen undeutlichen Fußabdruck.
Eine Löwenzahnstaude am Fuß der Rampe sah aus, als hätte
jemand (oder etwas) daraufgetreten. Etwa vierzig Zentimeter weiter gab
es ein paar geknickte Grashalme, und dann noch ein paar, im gleichen Abstand,
etwas nach links versetzt - unverkennbar eine Spur.
Jonna stakste vorsichtig durch das Gras, sorgsam darauf bedacht, nicht
auf die Fährte zu treten. Aber schon nach wenigen Metern verlor sie
die Spur zwischen den hohen Halmen.
Sie hatte ihre Erfahrungen mit solch alten Fährten. Aus der Nähe
waren sie oft kaum noch zu erkennen, aber wenn man sie aus der Distanz
betrachtete, von einem erhöhten Standort aus, hoben sie sich plötzlich
überraschend deutlich von ihrer Umgebung ab.
Sie drehte sich um und blickte nach oben, den Kopf in den Nacken gelegt,
blinzelnd im grellen Licht.
Die Stirnwand des Portals ragte vor ihr auf, zwanzig Stockwerke hoch,
eine riesige Fensterfront aus Glas und Metall, grau und blind vom Schmutz
der Jahrhunderte:
Der beste Aussichtspunkt weit und breit.
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