Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 3:
Im Portal / 2
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Jonna machte die Augen zu und wünschte sich zurück zur Tür Nummer sieben - der mit dem Kratzer.

Da haben wir den Salat. Verdammter Mist!

Sie schaltete das Licht im Korridor ein und widmete sich der Schleuse mit dem roten Lämpchen.

Das Schott zum Vorraum war geschlossen. Die Dichtungen waren intakt. Auch mit dem Schott zur eigentlichen Schleusenkammer war alles in Ordnung. Aber als Jonna es einen Spaltbreit öffnete, stach ihr grelles Tageslicht in die Augen. Es fühlte sich an, als bohre sich ihr ein glühendes Messer durch die Pupillen geradewegs bis ins Gehirn.

Sie prallte zurück, schob das Schott hastig wieder zu, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, atmete tief durch und wartete, bis ihre Augen sich von der plötzlichen Lichtfülle ein wenig erholt hatten. Dann machte sie sich daran, die Aufzeichnungen der Sensoren abzufragen.

Das Protokoll der letzten Woche enthielt keine Hinweise darauf, daß jemand innerhalb dieser Zeitspanne die Schleuse betreten hatte. Auch im Statusbericht für die vorangegangene Woche waren weder ein Besucher noch die rote Lampe vermerkt. Der innere Teil der Schleuse und das Portal an sich schienen den Schaden bisher nicht bemerkt zu haben.

Aber andererseits brannte draußen das Warnlicht - ein Widerspruch, den Jonna sich nicht erklären konnte.

Über den Scanner nahm Jonna Verbindung zum System der Stadt auf - hier im Portal eine überaus umständliche Prozedur.

Sie erklärte die Lage und fügte hinzu:

"Ich weiß ja, daß die Kommunikation mit dem System des Portals nicht ganz einfach ist, aber eine offene Schleuse sollte keinem von euch entgangen sein. Also: was weißt du darüber?"

"Nichts", erwiderte das System lakonisch.

"Kannst du mir sagen, wann und von wem die Schleuse zuletzt benutzt wurde?"

Die Antwort kam prompt:

"Vor etwas über zehn Jahren, von dem Protektor Ruotanni."

Jonna war nahe daran, aus der Haut zu fahren. Jetzt war sie nicht mehr müde. Der Adrenalinschub angesichts der roten Lampe und des offenen Schotts machte sie hellwach und reizbar.

"Die zehn Jahre vergessen wir mal" sagte sie. "Sikkims letzte Inspektion muß vor etwas über zwei Jahren stattgefunden haben. Eine offene Schleuse hätte er wohl kaum übersehen, und wenn er es war, der sie geöffnet hat, hätte er sie mit Sicherheit auch wieder geschlossen. Es muß also nach ihm jemand hiergewesen sein. Irgend jemand hat innerhalb dieser zwei Jahre das Portal betreten."

Ihr wurde heiß vor Schreck bei dem Gedanken, daß die Schleuse möglicherweise tatsächlich schon seit zwei Jahren offenstand. Nicht auszudenken, was in dieser Zeit alles passiert sein konnte!

Dem System
schienen solche Überlegungen fremd zu sein. Mit stoischer Ruhe gab es seine Antwort:

"Darüber ist mir nichts bekannt."

Werd jetzt bloß nicht nervös! Vielleicht ist gar nichts passiert!

Sie öffnete das innere Schott ein zweites Mal, gerade weit genug, daß sie die äußere Kammer überblicken konnte.

Die Kammer wirkte sauber. Sie stand sicher nicht schon seit zwei Jahren offen.

"Versuchen wir es anders herum", schlug Jonna vor und schob das Schott in die Halterungen zurück. "Vor dieser Schleuse brennt eine rote Lampe. Warum wurde kein Alarm gegeben?"

"Mir liegt keine Meldung vor, die einen Alarm rechtfertigen würde."

"Aktiviere die optischen Sensoren und überzeuge dich selbst!"

Es entstand eine kurze Pause. Dann verkündete das System:

"Die optischen Sensoren in diesem Bereich sind gestört."

Jonna öffnete die Tür zum Korridor, ging hinaus und richtete den Scanner auf das rote Licht:

"Siehst du es jetzt?"

Wieder eine dieser kurzen Pausen, dann die Antwort:

"Eine Übertragung optischer Signale aus diesem Sektor scheint zur Zeit nicht möglich zu sein."

Jonna blickte betroffen auf den Scanner hinab.

"Na schön", sagte sie. "Tu mir den Gefallen und überprüfe die Zugänge zu den Wartungsschleusen. Wer auch immer sich hier herumgetrieben hat - irgendwo muß er ja wohl eine Spur hinterlassen haben!"

Und wenn ich Jeans Anweisung befolgt hätte, wäre ich automatisch auf diese Spur gestoßen. Scheint, als müßte ich mich bei ihm entschuldigen!

"Einige der Zugänge zu den Wartungsschleusen sind defekt", meldete das System. "Die Sensoren funktionieren nicht mehr. Ohne die Sensoren kann ich nichts über etwa vorhandene Spuren sagen."

Warum hat es mir das nicht längst gesagt? Läßt mich hier herumstolpern und gibt mir keine Informationen! Was ist bloß los mit dem Ding?

"Mit anderen Worten", sagte sie, "im Portal kann möglicherweise schon seit fast zwei Jahren jeder ein und aus gehen, wie er will. Wenn ich das früher gewußt hätte, wäre ich schon längst mal hergekommen! Wie auch immer - die Schleuse hier unten ist offen. Könnten wir es mit einem Ausreißer zu tun haben?"

Die Antwort ließ auf sich warten. Das war natürlich auf die technischen Besonderheiten des Portals zurückzuführen. Ganz sicher war es das. Aber es wirkte trotzdem seltsam, als würde das System seine Worte abwägen - wie jemand, der im Begriff steht, eine Lüge zu erzählen oder etwas zu verschweigen.

"Die Schleuse, vor der Sie stehen", sagte es schließlich, "ist wahrscheinlich ebenfalls defekt. Die Daten, die Sie von den Sensoren erhalten, könnten falsch sein."

Jonna kehrte ins Innere der Schleuse zurück und sah sich drinnen gründlich um.

"Ich finde hier keine Hinweise auf eine Fehlfunktion!" verkündete sie.

"Es gibt aber auch keine konkreten Beweise dafür, daß es sich tatsächlich um einen Ausreißer handelt", erwiderte das System - eine etwas voreilige Schlußfolgerung, wie Jonna fand, noch dazu überraschend flink gegeben, ohne jede Verzögerung, wie aus der Pistole geschossen. Und dann fuhr die Computerstimme fort:

"Sie sollten kein unnötiges Risiko eingehen. Ich empfehle Ihnen, die Schleuse zu versiegeln und unverzüglich ins Stadtgebiet zurückzukehren!"

Das war, gelinde gesagt, ein höchst seltsames Angebot. Normalerweise folgte dem leisesten Verdacht, daß jemand die Stadt verlassen haben könnte, der sofortige Auftrag für eine Rückholaktion: nichts wie raus und die Überreste einsammeln. Das System war geradezu hysterisch darauf bedacht, nichts - aber auch wirklich gar nichts - an die Außenwelt zu verlieren.

Was aus der Stadt kommt, muß in die Stadt zurück.

Das war nicht irgendein Gesetz: es war das Gesetz. Wenn jemand da draußen verlorenging, war das nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern für das nüchtern rechnende System bedeutete es den Verlust bioenergetischen Materials, das sich unter den gegebenen Umständen nicht ersetzen ließ: alles, was ein Ausreißer im Laufe seines Lebens verbraucht hatte samt dem dafür nötigen Aufwand an Energie und Material - all das ging mit diesem einen Menschenleben verloren. Und es war eine erschreckende Bilanz, die das System in solchen Fällen aufstellte.

Es war ein beunruhigender Gedanke, daß das System plötzlich bereit sein sollte, einen solchen Verlust widerspruchslos hinzunehmen.

Aber ansonsten war es eine durchaus verlockende Idee. Es war Sommer - keine gute Zeit für eine Rückholaktion. Wenn das System keinen Wert darauf legte... Andererseits konnte Jonna sich nur allzu deutlich vorstellen, was Cheroux ihr erzählen würde, wenn sie dieser seltsamen Sache nicht nachging.

Und dir selbst würde es auch keine Ruhe mehr lassen - mach dir doch da nichts vor!

Sie sah sich im Vorraum um.

"Hier fehlt ein Schutzanzug", stellte sie fest. "Hast du eine Ahnung, wo er abgeblieben ist?"

Offenbar hatte das System endlich eine stabile Verbindung gefunden, denn auch die nächste Antwort kam ohne Verzögerung:

"Mir liegt keine Meldung über den Verbleib des Anzugs vor. Die Ausstattung der Schleuse müßte komplett sein."

Jonna öffnete einen der Schränke.

"Hier fehlt auch so allerhand", stellte sie fest.

Das System wertete diese Bemerkung nicht als Frage und schwieg.

"Hast du in der letzten Zeit überhaupt irgendeine Art von Meldung aus dieser Schleuse hier erhalten?"

"Das Portal", erläuterte das System, "hat alle routinemäßigen Kontrollimpulse einwandfrei beantwortet und tut das auch jetzt noch. Ich muß also nach wie vor davon ausgehen, daß alles in Ordnung ist. Da das aber nicht mit Ihren Beobachtungen übereinstimmt, dürfte ein Defekt vorliegen."

"Sehr scharfsinnig beobachtet", bemerkte Jonna sarkastisch. "Tu mir den Gefallen und sieh nach, ob in den letzten zehn Tagen jemand in der Stadt abhanden gekommen ist."

"Das hätte ich bemerkt!" behauptete das System.

"Das möchte ich jetzt lieber nicht ausdiskutieren!" erwiderte Jonna gereizt. "Ich werde mich inzwischen draußen umsehen."

In der Schleusenkammer lagen weder Staub noch Sand. Ein paar winzige Insekten saßen an den Wänden. In der rechten oberen Ecke hing eine kleine Spinne in einem sehr neu und sehr sauber aussehenden Netz. Jonna schloß aus diesen Indizien, daß das Schott mit Sicherheit nicht schon seit einer ganzen Woche offen war. Seit zwei oder drei Tagen - länger nicht.

Die Schleuse führte auf den Wartungssteg hinaus, der das Portal umgab. Jonna trat in den Sonnenschein hinaus, wartete mit gesenktem Kopf, bis der bohrende Schmerz über den Augenbrauen nachließ, ging dann zum Rand des Steges und blickte hinab.

Vor ihr lag eine weite, grasbewachsene Fläche. Das Gras war etwa kniehoch. Es wogte im leichten Wind und schimmerte im hellen Sonnenlicht wie Seide - pastellene Goldtöne in einem Meer von Silbergrün. Von einem Ausreißer war weit und breit nichts zu sehen. Es gab keine Fußstapfen im Gras. Nirgends war auch nur die Andeutung einer Fährte zu erkennen. Es waren weder Fliegen noch Wespen in der Luft.

Jonna ging langsam auf dem Steg entlang. Sie musterte die trockenen Moospolster, die spärlichen Gräser, die freien Flächen zwischen den Pflanzen: Nichts. Schließlich erreichte sie die Hauptschleuse, und dort, auf der breiten, flachen Rampe, fand sie ein umgeworfenes Moospolster und daneben, im vom Wind angehäuften Sand, einen undeutlichen Fußabdruck. Eine Löwenzahnstaude am Fuß der Rampe sah aus, als hätte jemand (oder etwas) daraufgetreten. Etwa vierzig Zentimeter weiter gab es ein paar geknickte Grashalme, und dann noch ein paar, im gleichen Abstand, etwas nach links versetzt - unverkennbar eine Spur.

Jonna stakste vorsichtig durch das Gras, sorgsam darauf bedacht, nicht auf die Fährte zu treten. Aber schon nach wenigen Metern verlor sie die Spur zwischen den hohen Halmen.

Sie hatte ihre Erfahrungen mit solch alten Fährten. Aus der Nähe waren sie oft kaum noch zu erkennen, aber wenn man sie aus der Distanz betrachtete, von einem erhöhten Standort aus, hoben sie sich plötzlich überraschend deutlich von ihrer Umgebung ab.

Sie drehte sich um und blickte nach oben, den Kopf in den Nacken gelegt, blinzelnd im grellen Licht.

Die Stirnwand des Portals ragte vor ihr auf, zwanzig Stockwerke hoch, eine riesige Fensterfront aus Glas und Metall, grau und blind vom Schmutz der Jahrhunderte:

Der beste Aussichtspunkt weit und breit.


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