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Der Turm der Königin
 
von Marianne Sydow
 


 "... und eines Tages", sagte der Lehrer, "wird eine Königin mit ihrem Hofstaat hier erscheinen, wie es immer geschehen ist, seit es unser Volk gibt, und sie werden einen Turm bauen, der hoch und glänzend ist, und wir werden den Turm versiegeln, auf daß niemand in Versuchung komme, die Königin zu stören. Und wenn ein Jahr vergangen ist, werden viele Kinder aus dem Turm hervortreten und sich mit den Jüngsten unseres Volkes vermählen, damit das Blut der Königin sich mit unserem Blut mischt und unser Volk von neuem erblüht."


Der Lehrer kam sich ein bißchen lächerlich vor, als er das erzählte, denn der, zu dem er sprach, war einen ganzen Kopf größer als der Lehrer, und folglich mußte er auch wesentlich älter sein. Er hätte die Geschichte kennen sollen, zumal er offensichtlich ein hochgestellter Angehöriger des Hofstaats war. Er hatte sogar einen Namen: Hollemer, und er war in Begleitung anderer Höflinge einem großen, glänzenden Kokon entstiegen, der durch den Himmel schwebte.

"Wir wollen keine Schwierigkeiten mit euch bekommen", sagte Hollemer. "Wenn der Turm der Königin an einem bestimmten Platz stehen soll, dann werden wir gerne darauf Rücksicht nehmen. Vielleicht wäre es am besten, wenn du mir zeigst, wo wir unsere Station bauen können."

Der Lehrer fühlte sich sehr geschmeichelt, aber gleichzeitig auch ein wenig peinlich berührt. Es erschien ihm als sehr seltsam, daß Hollemer einen namenlosen Lehrer der zehnten Generation zu seinem Ratgeber bestimmen wollte. Andererseits stand es einem Namenlosen wohl kaum zu, Hollemer oder einen anderen Helfer der Königin zu kritisieren.

Der Lehrer schritt voran und führte Hollemer auf einen Hügel.

"Dort unten", sagte er und deutete in das Wiesental hinab, denn für den Turm der Königin war das Beste gerade gut genug.

Hollemer reagierte seltsam zurückhaltend. Der Lehrer mußte ihn regelrecht dazu überreden, das Wiesental als Bauplatz zu abzeptieren.

"Wir werden uns bemühen, hier nicht allzu viel Schaden anzurichten", sagte Hollemer schließlich.

Der Lehrer blickte verwundert zu ihm auf.

"Euer Vorhaben ist sehr wichtig für uns", stellte er fest.

"Da hast du natürlich auch wieder recht", sagte Hollemer. "Die Station wird eure Stadt wieder aufblühen lassen."

"Ja, sie ist ziemlich heruntergekommen, aber das war ja wohl auch zu erwarten", meinte der Lehrer und blickte über die Hügel zu den alten, verfallenen Mauern hin. Er deutete auf eine hohe Ruine draußen in der Ebene. "Das war der Turm der vorigen Königin. Du hast sicher bemerkt, wie klein die Jüngsten im Vergleich zu mir sind. Es ist höchste Zeit, daß ihr uns helft."

Hollemer sah aus, als verstünde er nur jedes zehnte Wort, aber das lag sicher daran, daß er mit seinen Gedanken bereits bei der Arbeit war.

"Ihr werdet uns doch helfen?" fragte der Lehrer eindringlich.

"Selbstverständlich werden wir das", erwiderte Hollemer beschwichtigend. "Aber das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin nur für den Bau zuständig. Verstehst du das?"

"Ja, natürlich", erwiderte der Lehrer beschämt, denn das Prinzip der Arbeitsteilung war ihm natürlich bestens vertraut. Aber irgendwie war Hollemers Verhalten so wenig hoheitsvoll, daß der Lehrer vorübergehend gemeint hatte, bei Hofe sei vielleicht alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte.

"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen", sagte Hollemer. "Die Aufbauphase wird sehr schnell vorübergehen, und sobald wir damit fertig sind, werden wir uns um eure Probleme kümmern. Uns liegt sehr viel daran, daß es euch gut geht."

Der Lehrer war erstaunt darüber, daß Hollemer es für nötig hielt, dies so ausdrücklich zu betonen. Natürlich lag ihm das Wohlergehen des Volkes am Herzen - alles andere wäre völlig undenkbar gewesen.

"Ich würde euch unsere Hilfe beim Bau anbieten", sagte er. "Aber ich nehme an, daß du dieses Angebot ablehnen wirst?"


"Das ist nicht böse gemeint", versicherte Hollemer hastig. "Aber es wäre mir tatsächlich lieber, wenn ihr euch von der Baustelle fernhalten könntet. Ihr wärt uns nur im Wege und würdet vielleicht sogar in Gefahr geraten."

Der Lehrer hatte mit einer solchen Antwort gerechnet.

"Wir werden warten", sagte er mit großer Würde und entfernte sich still und bescheiden, wie es sich für einen Namenlosen geziemte.

In den nächsten Tagen geschahen im Wiesental seltsame Dinge, die wie Wunder anmuteten, und der Lehrer hatte große Mühe, die Kinder vom Bauplatz fernzuhalten.

"Es hat keinen Sinn, daß ihr jetzt dort herumlungert", sprach er streng zu ihnen. "Ihr könnt dort nichts tun. Ich erwarte, daß ihr euch respektvoll verhaltet und alle nötigen Vorbereitungen trefft. Mir scheint, daß es ein sehr großer Turm werden soll. Wir werden all unsere Kräfte brauchen, um ihn ordentlich zu versiegeln. Geht in die Wälder und sammelt Vorräte, denn was wir in unseren Speichern haben, wird nicht ausreichen."

Sie gehorchten. Der Lehrer bezog unterdessen Posten auf einem benachbarten Hügel und beobachtete die Bauarbeiten. Er stellte mit Befremden fest, daß die Höflinge sich nicht scheuten, riesige, glänzende Sklaven auf dem Bauplatz zu beschäftigen.

"Eure Sklaven sind sicher sehr stark", sagte der Lehrer zu
Hollemer, der ihn auf dem Hügel besuchte. "Aber ich finde
es ein wenig seltsam, daß ihr sie den Kindern vorzieht. Die
Kinder könnten euch bestimmt eine größere Hilfe sein."

"Bist du sicher?" fragte Hollemer und deutete auf einen
Sklaven, der gerade eine Kammer von der Größe eines
ausgewachsenen Hauses durch die Luft schwenkte. "Das
wäre für die Kinder vielleicht doch ein bißchen zu schwer,
oder nicht?"

Der Lehrer erkannte beschämt, daß Hollemer nicht die
Absicht gehabt hatte, die Kinder zu beleidigen. Er wollte
nur ihre schwachen Kräfte schonen.


"Außerdem", fuhr Hollemer fort, "sind das da unten keine
Sklaven. Es sind Maschinen, Roboter. Ihre Kräfte sind
unerschöpflich."

Der Lehrer nahm es demütig zur Kenntnis. Am Hofe der
Königin gab es viele Wunder. Das hatte er schon immer
gewußt.

Einige Zeit später war der Turm fertig. Er war hoch, sehr
hoch, und er war glänzend. Es war ein wirklich prächtiger
Turm. Der Lehrer schätzte, daß die in einem so großen Turm
enthaltenen Kammern ausreichten, um mindestens
zweitausend Kinder darin aufzuziehen. Das bedeutete, daß
alle Kinder der elften und zwölften Generation einen Partner
finden würden.

Der Lehrer ging zum Turm und fragte nach Hollemer. Der
Höfling am Eingang behandelte den Lehrer sehr
unfreundlich: er hob in einer heftigen, drohenden Gebärde
die Hand und bellte ein paar Worte, die der Lehrer nicht
verstand. Wenig später kam ein anderer Höfling und führte
den Lehrer ins Innere des Turms.

Dort sah es noch prächtiger aus, als er es sich in seinen
kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Alle Flächen waren
glatt, hell und sauber, und selbst der Boden unter seinen
Füßen war so blank, daß er sich darin spiegeln konnte.

Man brachte ihn in eine sehr schöne Kammer. An den
Wänden waren glänzende, glasige Beulen zu sehen. Der
Lehrer erstarrte fast vor Ehrfurcht, als er begriff, daß dies
die Verschlüsse von Brutkammern sein mußten.

Er versuchte, einen Blick ins Innere einer solchen Kammer
zu werfen, aber obwohl das Material durchsichtig zu sein
schien, konnte er nichts erkennen. Plötzlich wurde der
Verschluß der Brutkammer hell. Ein Gesicht erschien darauf
- zweifellos das Gesicht des Kindes, das in dieser Kammer
heranwachsen sollte. Der Lehrer zuckte erschrocken zurück.

Hollemer betrat die Kammer. Er wirkte erschöpft und
vergrämt. Der Lehrer erkannte bestürzt, daß Hollemer
zu denen gehörte, die völlig in ihrer Arbeit aufgingen. Es
wäre sehr unhöflich gewesen, ihn jetzt auch noch daran
zu erinnern, worauf das hinauslief. Der Lehrer beschränkte
sich daher auf die einfache Frage:

"Seid ihr fertig?"

Hollemer sah ihn nachdenklich an.

"Ja", sagte er. "Alles andere ist nicht mehr meine Sache."

Der Lehrer wußte, was das bedeutete. Hollemer tat ihm
leid. Obwohl der Höfling eine so große und schwere Aufgabe
zu erfüllen hatte, war er stets bereit gewesen, auf die
unnützen Fragen des Lehrers einzugehen. Selbst jetzt blieb
er noch geduldig und freundlich.

"Ich werde euch bald verlassen müssen", sagte Hollemer
und streckte dem Lehrer die Hand hin. Der Lehrer
erschauerte und senkte den Kopf, während er die Geste
des endgültigen Abschieds erwiderte.

Hollemer führte den Lehrer persönlich zum Tor zurück.
Der unfreundliche Höfling von vorhin war inzwischen
verschwunden. Im Turm war es still geworden. Den Lehrer
ergriff eine feierliche Stimmung.

"Ich danke dir", sagte er zu Hollemer. "Du wirst in meiner
Erinnerung immer einen ganz besonderen Platz einnehmen."

Hollemer nickte ihm freundlich zu.

Der Lehrer verließ das Wiesental und rief die Kinder
zusammen. Sie kamen und warteten geduldig auf den
Sonnenuntergang. Als es dunkel war, machten sie sich
ans Werk.

Sie brauchten die ganze Nacht, und es war nur gut, daß
der Lehrer sie so lange und gründlich auf ihre Aufgabe
vorbereitet hatte, denn einige der Höflinge erwachten, und
nicht alle besaßen soviel innere Größe wie Hollemer. Sie
waren nicht bereit, sich still und in Würde in ihr Schicksal
zu ergeben, sondern kämpften dagegen an. Die Kinder aber
bewiesen Mut und Umsicht. Sie ließen keinen entkommen
und versiegelten alle Öffnungen, obwohl das bei einem so
gigantischen Turm natürlich ein schwieriges und oft auch
gefährliches Unterfangen war.


Noch viele Tage lang hörte man gelegentliches Schreien
aus dem Turm. Der Lehrer war froh, daß er den Kindern
befohlen hatte, in die Stadt zurückzukehren. Nur er allein
hielt Wache vor dem Turm. Erst als es endlich still darin
geworden war, ließ er die Kinder kommen.

"Ein ganzes Jahr", sagte er zu ihnen, "werden die Kinder der
Königin brauchen, bis sie groß genug sind, um das Tor zu
öffnen. Ein ganzes Jahr lang müssen wir warten, bis unser
Volk das Fest der Erneuerung erlebt."

Das Jahr verging, aber das Tor blieb geschlossen. Der
Lehrer wurde krank und starb. Die ersten Kinder der
dreizehnten Generation wurden geboren, und das Tor
öffnete sich immer noch nicht.

Irgendwann verloren sie die Geduld. Sie brachen das Tor auf
und sahen nach, was sich in dem Turm befand.

Sie fanden weder eine Königin, noch ein Anzeichen dafür,
daß jemals auch nur eine einzige der vielen Brutkammern
belegt worden war.

Nur seltsame, fremdartige Gerippe lagen in den Kammern.

 

(©) Marianne Sydow 1990

Erschienen im Perry Rhodan Taschenbuch Nr. 333
mit ebendiesem Titel:
"333"

   
   
 
   
   
 
 
 
   
 
   
 
 
 
   
 
 
 
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